Hegel. 100 Seiten. Dietmar Dath

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das nicht Idealismus, und ist der nicht objektiv, ja mehr: absolut, nämlich Voraussetzung für jede objektive Aussage? Muss also nicht, wer Naturwissenschaft treiben will, den Grundgedanken von Hegel für wahr halten, die Welt sei Denken?

      Sachverhalte und Begriffe

      Hegel und Maxwell haben gemein, dass sie nicht nur Eigennamen für Sachen benutzen (»Hund«, »Katze«, »Maus«), sondern auch Begriffe. In diesem Buch gehorche ich, wenn ich das Wort »Begriff« verwende, einem Sprachgebrauch, der »Begriffe« solche Wörter nennt, mit deren Hilfe sich Sachen (also Messgrößen) miteinander vergleichen, voneinander unterscheiden und in ihrem veränderlichen Verhalten beschreiben lassen.

      Bei Maxwell sind das Wörter wie: »Welle«, »Feld«, »Kraft«, bei Hegel sind das Wörter wie: »Identität«, »Manifestation«, »Totalität«. Einfache Objektnamen wie »Hund«, »Katze« oder »Maus« sind in dieser Sichtweise Bezeichnungen für beobachtbare Größen, Begriffe dagegen Namen für Beziehungen zwischen solchen Größen.

      Der auffälligste Unterschied zwischen Hegel und Maxwell ist der, dass Maxwell Begriffe tendenziell eher (wenn auch nicht ausschließlich) im Hinblick auf Sachen und Sachverhalte benutzt, während Hegel Begriffe tendenziell eher (wenn auch nicht ausschließlich) im Hinblick auf andere Begriffe benutzt.

      Der Astronaut Ulrich Walter hat verlangt, man dürfe nicht nur Roboter auf Raumfahrt schicken, sondern müsse auch Menschen einsetzen, denn Roboter könnten keine Geschichten erzählen. Uns entgeht Wissen, wenn wir auf menschliche Wahrnehmungen verzichten, etwa Wissen davon, wie das Essen im All schmeckt. Roboter können mit der Welt interagieren, aber die Wechselwirkungen, die dabei vorkommen, sind resonanzärmer als solche, die durch zusätzliche Reflexionsschlaufen angereichert werden.

      Bei Maxwell, könnte man sagen, fungieren Begriffe als Roboter zum Zweck der Sondierung der Welt. Sie sind Maschinen, die eine Aufgabe erfüllen: den Elektromagnetismus so aufzuschlüsseln, dass man ihn technisch manipulieren kann. Bei Hegel dagegen sind die Begriffe Teil einer von Hegel subjektiv, oft nahezu dichterisch ersonnenen, dann aber schriftlich als Text objektivierten Systemgeschichte ihrer Begriffseigenschaften.

      Hegels Philosophie hat sozusagen ein Bewusstein von sich als Bewusstseinsleistung; sie weiß, dass sie mit Begriffen arbeitet und wie Begriffe schmecken.

      Meine Unterscheidung zwischen Maxwell und Hegel ist hier eine quantitative (»tendenziell eher« heißt: öfter), aus der eine qualitative folgt (Hegels Begriffe stellen ihren Begriffscharakter aus). Ich schließe mich damit nicht Heidegger an, der sagte, die Wissenschaft denke nicht. Ich sage: Sie denkt anders; mit anderem Zweck und anderen Methoden als die Philosophie (oder die Poesie, die Mystik, die Musik …).

      Hegels Begriffsarbeit strengt beim Lesen an, wie das Beispiel vom Licht aus der Enzyklopädie zeigt. Aber sie kann begeistern, weil er Begriffsverknüpfungen wie Begriffszergliederungen mit einer Beweglichkeit und zugleich Konsequenz erfindet, erprobt und verwirft, die kaum irgendwo ihresgleichen hat.

      Sein wichtigstes Verfahren dafür nennt er »Dialektik«. Die nimmt er so wichtig wie Maxwell das Differenzieren. Sowohl dialektische Philosophie wie die mit Infinitesimalrechnung befasste Physik entfernen sich oft weit von der Alltagsvernunft. In der Physik hören und lesen wir etwa vom unendlich Kleinen, in der Dialektik zum Beispiel davon, dass in jedem Begriff und jedem Ding ein Widerspruch arbeite, und sei es nur der Widerspruch zwischen Sein und Nichtsein, den wir »Werden« nennen.

      Hegel verfolgt dergleichen bis an Punkte, an denen er zu rätselhaften Feststellungen wie derjenigen gelangt, Gegensätze bildeten etwas, das man eine »Einheit« nennen dürfe.

      Der ärgste Affront für jeden Positivismus dürfte Hegels Lehre sein, das Sammeln von Beweisen und ihre Integration in eine Theorie komme nicht deren Objektivität zugute, sondern sei als unstatthafte Abschweifung ins »schlechte Besondere« abzulehnen, das dem allein wissenschaftswürdigen Allgemeinen nur im Weg stehe.

      Hintergrund der Wahrheitsfindung war für Hegel eine vertrackte Sorte »immer«, die ihr Absolutes in einer gigantischen Selbstveränderung besitzt. Er nannte diese Selbstveränderung »Geschichte«. In ihr schreitet die Welt nach dem Maß dessen fort, was Geist braucht, um Welt zu werden. Das betrifft jede noch so konkrete historische »Innovation«, wie wir heute sagen, sogar das Schießpulver, von dem Hegel lehrt: »Die Menschheit bedurfte seiner, und alsobald war es da.«6

      Unbestreitbar ist, dass die Wahrheitsfindung im Sinne Newtons oder Maxwells Voraussetzungen und Ergebnisse kennt, die Hegel »dialektisch« genannt hätte. So stützt sie sich zum Beispiel auf die rätselhafte Überzeugung, eine gebogene Linie bestehe aus unendlich vielen und unendlich kleinen geraden Linien, oder eine beschleunigte Bewegung bestehe aus unendlich vielen, unendlich kleinen gleichförmigen Bewegungen.

      Wer nicht sieht, dass das sehr nahe bei Hegels Idee des »Umschlags von Quantität in Qualität« steht, will es nicht sehen.

      Ein Widerwille gegen Hegel sucht seine Gründe

      Mein erster Versuch, Hegel zu lesen, liegt mehr als 30 Jahre zurück. Ich war ihm auf den Spuren von Marx begegnet, weil Hegel zu den Leuten gehörte, die Marx seine Lehrer nannte. Deutungen sprachen davon, Marx habe Hegel studiert und einiges von ihm übernommen, vor allem »Methodisches«, ihn aber auch kritisiert, überwunden und »vom Kopf auf die Füße gestellt«, was auch immer das heißen sollte.

      Erste Lektüre ergab, dass Hegel große Stücke auf etwas hielt, das er »Vernunft« nannte. War dieser Hegel womöglich ein Aufklärer gewesen, der gegen die starre, tief ungerechte Welt des ständischen Mittelalters agitiert hatte? Dann mochte er sich als Modell für den Kampf gegen die nicht mehr adlige, sondern bürgerliche Herrschaft eignen, die das mittelalterliche Unwesen abgelöst hatte. Weiterlesen ergab, dass ich den Mann nicht politisch fortschrittlich finden konnte. Dass er in einem entwickelteren, erwachseneren Sinn tatsächlich sogar sehr fortschrittlich war, habe ich erst viel später kapiert. Hegels Verehrung für Napoleon stieß mich ab: Der war doch ein autoritärer Politiker, ein Machtmensch. Dass Hegel wusste, wie schwer es war, den Adel und sonstigen »Alb der toten Geschlechter« (Marx)7 ohne strenge und flächendeckende Maßnahmen (also ohne Napoleons Politikstil) in den Griff zu kriegen, weil Fortschritt »im Bewusstsein der Freiheit«, wie Hegel sagt8, mitunter den harten Umweg über die Beschränkung der Freiheit gewisser Feinde der Freiheit nehmen muss, ging mir nicht auf. Hegels Schreibart klang mir nach verschlungenen Verordnungen. Was er sachlich vorzubringen schien, kam mir oft geradezu empörend verrückt vor; nicht nur in der Physik, sondern auch in Kulturfragen: Die gesamte Kunst sollte etwa demnächst »enden«, was erstens unverständlich war (wie soll das aussehen, legen alle Kunstschaffenden ihr Werkzeug weg?) und zweitens der greifbaren Erfahrung einer rasant beschleunigten Ästhetisierung aller Lebensbereiche in meiner eigenen Gesellschaft, der Bundesrepublik Deutschland der 1980er Jahre, direkt widersprach.

      Nicht sympathischer wurde mir der Philosoph durch seine abwertenden Urteile über nichteuropäische Geschichte und über »trübe Völker«9, denen er mit derselben Herablassung begegnete wie die stumpfsten Rechten, die ich kannte.

      Am liebsten hätte ich Hegel gar nicht mehr gelesen. War Marx, der Hegel lobte, nicht doch, allen Wendungen seines Denkens ins Politische und Praktische zum Trotz, immer Grübler geblieben, schrieb er nicht auch spekulativ, oft schwer überprüfbar? Sollte ich sein Urteil über Hegel überhaupt teilen wollen?

      Andererseits: Eminent praktische Personen, vom soliden Friedrich Engels bis zum Berufspolitiker Lenin, rieten dringend zur Hegel-Lektüre. Selbst der ungarische Denker Georg Lukács, der gegen jede Vergiftung des klaren Hirns stritt und in seinem Werk Die Zerstörung der Vernunft (1954) den Irrationalismus in Grund und Boden schimpfte, verehrte Hegel, ja sogar der Dichter Peter Hacks, der das Fassliche stets mit Ingrimm gegen jede Obskurität verteidigte.

      Eine Weile hielt ich die Hegelliebe dieser Köpfe für eine Art Ahnenkult: Marx war nun mal Hegelfan gewesen, die Erbschaft wurde wohl weitergereicht wie Familientafelsilber. Als ich Mitte 20 war, gab mir dann jemand einen unerwarteten Hinweis: Nicht nur im Marxismus und in der bürgerlich- akademisch-feuilletonistischen Welt schätzte man den Autor der Phänomenologie


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