Wie frei wir sind, ist unsere Sache. Ulrich Pothast

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Wie frei wir sind, ist unsere Sache - Ulrich Pothast


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einen anderen, der die relevante Einstellung des Zaren nur in schwächerer, weniger entschiedener Form übermittelte. Das kann nicht als Reflex, Zucken, Freud’sche Fehlleistung oder dergleichen aufgefasst werden. Da es als eine Handlung des Generals dargestellt wird, und da er seinem Zaren dafür rechenschaftspflichtig ist, deuten wir es als gewolltes Tun. Dieses Tun fiel unter dem Einfluss ungünstiger Faktoren wie Müdigkeit, Einschüchterung, Verblüffung über Napoleons Benehmen anders aus, als der General es im Vorfeld beabsichtigte. Man kann hier daran denken, dass es Willenshaltungen als Dispositionen gibt wie beim Hinleben und Hinarbeiten auf langfristige Ziele. Dann kann man sagen, dass Balaschow zwar in diesem Sinn zuvor die Willens-Disposition hatte, den richtigen Satz zu sprechen, dass im kritischen Augenblick sich aber ein anderes, jetzt handlungsführendes, aktuelles Wollen bildete, so dass er den schwächeren Satz sprach.

      Die Ansicht, dass zu einer Handlung im vollen Wortsinn ein darauf gerichtetes Wollen gehört, dürfte philosophisches Gemeingut im westlichen Kulturkreis sein, wie immer die Wörter lauten mögen. Im Einzelnen haben menschliches Wollen und menschlicher Wille die Philosophen oft in Verwirrung gebracht und sind geeignet, auch weiterhin Verwirrung zu stiften. Deshalb ist im Vorfeld der kommenden Überlegungen sehr kurz über den Sprachgebrauch zu reden, so dass deutlich ist, was in diesem Buch »Wollen« einerseits und »Wille« andererseits heißen sollen.

      Wenn wir in der Erinnerung eine beliebige, auf eine bestimmte Handlung hin orientierte Phase unseres Lebens wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit bringen, entdecken wir dabei nirgendwo eine Gegenständlichkeit, die wir »Wille« nennen könnten. Auch der Versuch, auf den gegenwärtigen eigenen Bewusstseinszustand in der sogenannten Präsenzzeit konzentriert zu achten, fördert nichts Gegenständliches oder Gegenstandsartiges zutage, wofür das Wort »Wille« sinnvoll stehen könnte. Allerdings befinden wir uns vor einer Handlung oft in einer seelisch-körperlichen Gesamtverfassung, in der wir statt etwas Gegenständlichem namens »Wille« etwas Zuständliches bemerken, das wir »Wollen« nennen können. Wenn ich zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas will, z. B. jetzt dieses Kapitel hier zu schreiben, kann ich sagen, dass meine bewusste Person in merklicher Weise auf dieses Ziel hinstrebt. Ich spüre irgendwie, dass ich dieses Kapitel schreiben will. Ich habe das, was ich zum Thema sagen möchte, bislang erst unklar vor mir und strebe danach, es klar in Worte zu bringen. Selbst das, was ich hier »Streben« nenne, ist nur eine irgendwie zu spürende Besonderheit meines bewussten Gesamtzustandes, nicht aber eine klar abgegrenzte, isolierte Gegebenheit meines inneren Lebens. Ludwig Wittgenstein, der größte und scharfsinnigste Kritiker unserer herkömmlichen Bewusstseins-Sprache, schrieb über eine vergleichbare Situation: »Soll ich sagen, wer eine Absicht hat, erlebt eine Tendenz?«1 Wittgenstein deutete mit der in der Frage ausgedrückten Unsicherheit recht gut an, wie schwer es ist, das Erleben eigener Wollenszustände genau zu beschreiben. Unsere Sprache hat sich historisch für die Zwecke des Überlebens in der Außenwelt gebildet; für die genaue Erfassung des bewussten Inneren eignet sie sich herzlich schlecht. Aber obgleich wir unser Wollen schwer beschreiben können, haben wir doch, wenn wir jetzt und hier etwas wollen, selten Zweifel daran, dass wir es wollen. Eine Ausnahme wäre unbewusstes Wollen, z. B. im Freudschen Sinn, aber das ist hier nicht Thema.

      Besonders deutlich erlebbar ist aktuelles Wollen, wenn es eine Ablehnung fremder Erwartungen darstellt, zum Beispiel sich auf etwas richtet, was die Person nicht mit sich geschehen lassen will. Wenn mich auf einer Party jemand aufdringlich mit einem Gerede überzieht, auf das ich eingehen soll, das ich aber leer, belanglos und öde finde, dann spüre ich deutlich: Ich will das nicht. Die gespürte Ablehnung, das ablehnende Wollen, wird über kurz oder lang in mir so stark, dass ich mich mit ein paar Worten von dieser Person löse und woanders hingehe. Ähnlich werden Menschen, die unangenehm berührt sind davon, dass ihnen jemand in aufdringlicher Form körperlich nahe kommt, sehr klar spüren, dass sie dies nicht wollen. Die dergestalt Bedrängten werden dann meist versuchen, sich zu entziehen, zu wehren, zu kämpfen, zu fliehen, vielleicht Hilfe zu holen. Wollen, in dem sich der eigene Widerstand gegen eine von außen kommende Zumutung geltend macht, gehört zum Deutlichsten, was sich in unserem spürenden Leben überhaupt kundtut. Trotzdem finden wir dabei nichts Gegenständliches oder Gegenstandsartiges, das wir »Wille« nennen könnten. Der Wille ist kein innerlich auffindbarer Gegenstand.

      Wollen hingegen ist etwas innerlich Auffindbares. Zwar ist es gleichfalls kein innerer Gegenstand, wohl aber ein bemerkbarer Gesamt-Zustand der Person, ein konzentriertes Streben, das sich auf etwas Bestimmtes richtet. Wollen ist nicht gegenständlich oder gegenstandsähnlich, sondern auf übergreifende, vieles einfärbende Weise zuständlich. Es ist in dieser Hinsicht einer deutlich gespürten Freude oder einem ebenso gespürten Ekel vergleichbar. Deshalb ist »Wollen« im Gegensatz zu »Wille« auch kein Wort der bloßen Theorie, sondern bezieht sich im Fall aktuellen Wollens auf etwas, das die Person als einen Zug ihrer individuellen Wirklichkeit jetzt und hier spüren und in diesem Sinn buchstäblich als real erleben kann. Wir können sagen, das aktuelle, jetzt und hier sich geltend machende Wollen ist als etwas Wirkliches im Erleben der Person ausweisbar. Dadurch hat das Wort »Wollen« für mich als erlebende Person unzweifelhaft einen Realitätsbezug. Hingegen entdecke ich in meinem Erleben etwas, das ich wie einen inneren Gegenstand mit »Wille« ansprechen könnte, nicht. Einen unmittelbaren Realitätsbezug für dieses Wort, das grammatisch wie ein inneres Ding daherkommt, kann ich nicht feststellen. Die Sprache spielt uns Streiche.

      Wohl aber lässt sich verstehen, dass die Menschen zur Erklärung bestimmter Erlebnisse, zum Beispiel des erlebten Wollens, sich in unserem Kulturkreis irgendwann eine Theorie gebildet haben, die heute zum Alltagsgut zählt. In ihr spielt der so genannte »Wille« die Rolle von etwas Größerem und Dauerhafterem, das sich im konkreten Fall als erlebtes Wollen äußert. Diese Tradition gebraucht »Wille« wie einen Begriff, der zu einer populären Theorie des Seelenlebens gehört und für etwas steht, das zum Kernbereich einer Person zählt, aber als solches nicht erlebt wird. Vielmehr zeigt der so verstandene Wille seine Wirksamkeit gleichsam auf einem Umweg in aktuell erlebtem Wollen sowie im zugeordneten Handeln. In diesem Kontext sprechen wir auch von »starkem Willen«, »schwachem Willen«, »gebrochenem Willen« und ähnlich.

      Diese populäre Theorie des Willens geht auf ein Motiv zurück, das man leicht nachvollziehen kann. Es wäre nämlich ganz unplausibel, zu sagen, dass der General Balaschow während seines Rittes zu Napoleons Feldlager und seines dann tagelangen Wartens unablässig ein Wollen erlebt hätte, das sich auf das Erfüllen seines Auftrags richtete. Angemessener ist es hier, davon zu sprechen, dass Balaschow während seiner Reise und der Wartezeit eine zielgerichtete Grundeinstellung hatte, die nicht pausenlos in seinem Bewusstsein präsent war. Wohl aber leitete diese Einstellung seine Reise, indem sie sich in seinem bewussten Erleben immer dann geltend machte, wenn es darauf ankam, z. B. wenn an einer Weggabelung zwischen dem Weg zu Napoleon und dem Weg zu einem anderen Ort zu wählen war. Wir können hier das schon gebrauchte Wort »Disposition« wieder verwenden, indem wir sagen: Die Disposition, Napoleon die befohlene Botschaft zu überbringen, gehörte während Balaschows Reise zu den wichtigsten handlungsleitenden Zügen seines seelisch-körperlichen Zustands. Die Gesamtheit handlungsgerichteter Dispositionen einer Person können wir als ihren »Willen« bezeichnen. Der so verstandene Wille macht sich nicht ständig im Erleben der Person bemerkbar – wie sich die Disposition des Fensterglases, unter Stoß zu zerbrechen, nicht unablässig an diesem Glas bemerkbar macht.

      Der Wille äußert sich jedoch in erlebtem Wollen und Tun der Person, wenn sie in eine Lebenslage kommt, in der solches Tun gefordert ist. Tolstoi erzählt, dass Balaschow im französischen Lager auf den General Murat trifft, den Napoleon zum König von Neapel gemacht hatte. In der Unterredung mit diesem phantasievoll geschmückten Herrn betont Balaschow die friedlichen Absichten des Zaren und weist die französische Unterstellung, dieser habe den Krieg begonnen, zurück. Wir können annehmen, dass sich in diesen Aussagen Balaschows Wille zur Geltung brachte, den Franzosen auftragsgemäß die friedliche Gesinnung seines Zaren zu verdeutlichen.

      Das Wort »Wille« möge in unseren Überlegungen künftig als handlungsgerichtete, personeigene Disposition oder als die Gesamtheit solcher Dispositionen einer Person verstanden werden. Das Wort »Wollen« hingegen möge für einen konkreten Zustand des Erlebens stehen, in welchem eine Person sich strebend, begehrend


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