Moment mal!. Fabian Vogt

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Moment mal! - Fabian Vogt


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seither lesen und schreiben können.

      Heute ist »Welt-Braille-Tag«, und das ist wirklich ein Grund zum Feiern. Weil Blinde durch Braille all das, was sie nicht sehen, zumindest in den Worten der Dichter und Denker miterleben können. Die sechs Punkte machen es ihnen möglich, mit den Fingern zu sehen. Schönheit zum Anfassen.

      Nun ist Weihnachten zwar schon vorüber, aber vielleicht lohnt sich noch mal ein kleiner Rückblick. Denn: Jesus ist nichts anderes als eine Brailleschrift des Himmels. Gott, den wir Menschen nicht sehen können, erfindet sozusagen eine Schrift, mit deren Hilfe man ihn erkennen kann. Ja, Jesus ist das Medium, mit dessen Hilfe auch jemand, der für das Überirdische blind ist, eine Vorstellung davon bekommt, wie Gott ist. Liebe zum Anfassen.

      Und mancher, der an Weihnachten in der Geburt Jesu etwas von Gottes Gegenwart erkennt, fühlt sich wie ein Blinder, der mithilfe der Brailleschrift zum ersten Mal eine bildhafte Vorstellung von der Welt bekommt. Natürlich braucht es dazu Fingerspitzengefühl – aber zugleich eröffnet sich eine neue Dimension des Lebens.

      JANUAR

      5

       Die vielen unheiligen Weisen

      Morgen ist der 6. Januar. Der Tag der heiligen drei Könige. Der Tag, an dem man sich daran erinnert, dass die heiligen drei Könige zu Jesus kamen, um ihm wertvolle Geschenke zu bringen.

      Also, um genau zu sein: Es waren laut Bibel gar keine Könige, sondern Weise. Wahrscheinlich waren’s auch nicht drei. Die Bibel nennt gar keine Zahl, und nur weil die Gruppe drei Geschenke mitbrachte, einigte man sich nach langen Diskussionen auf drei Personen. Es könnten aber auch acht oder zwei gewesen sein. Und heilig waren die Kerle nach damaligem Verständnis schon gar nicht, weil sie als Astrologen arbeiteten und die Bibel gegen solche Leute mehrfach ganz massiv wettert.

      Moment mal. Ich glaube, ich fange einfach noch mal an. Also: Morgen ist der 6. Januar, der Tag der ungezählten, unheiligen Männer, die aus irgendeinem Grund in die Weltgeschichte eingegangen sind. Tja, warum?

      Ich behaupte: Sie haben etwas getan, was alle fasziniert, die gerne glauben würden. Schauen wir uns das mal an. Diese Sterndeuter sehen einen Stern am Himmel und kommen zu dem Schluss, dass dieser Stern etwas mit der Gegenwart Gottes zu tun hat. Und jetzt kommt das Entscheidende: Sie machen sich tatsächlich auf den Weg. Ohne Sicherheit, ohne Erfolgsgarantie und ohne genaue Anweisung. Einfach weil ihre Sehnsucht größer ist als alles, was sie bisher von der Welt kennen. Weise sind die Weisen nicht, weil sie den Stern korrekt deuten, sondern weil sie dem Stern tatsächlich folgen – und gucken, ob etwas dahinter, oder besser, darunter ist.

      Ich gestehe, dass ich so manches Glitzern gesehen habe, bei dem ich dachte: »Na, könnte das nicht ein Hinweis auf die Gegenwart Gottes sein?« Aber nachgeschaut habe ich nur in den seltensten Fällen. Gut, dass die Leute, deren Festtag morgen ist, zeigen, wie es richtig geht.

      JANUAR

      6

       Dreikönigstag

      Es war einige Tage nach Weihnachten. Drei von ihrer Reise ermüdete und doch erregte Herren aus dem Ausland ließen sich bei Hofe melden, stürzten in den Audienzsaal und stellten dem dort auf seinem Thron sitzenden Herrscher nur eine einzige schlichte und doch äußerst explosive Frage: »Wo ist der König?«

      »Häh?«, sagt der Herrscher, »ich bin doch …«

      »Nein«, erwidern die Männer. »Wir haben ein himmlisches Zeichen bekommen, dass hier in der Region ein neuer König zur Welt gekommen ist.«

      Kein Wunder, dass dem amtierenden Regenten Herodes ganz mulmig wird. Schließlich hat er gerade erst zwei seiner Söhne hinrichten lassen, um jegliche Anwärter auf den Thron ein für alle Mal abzuschrecken.

      Heute ist das Fest der heiligen drei Könige, der Tag, an dem man der Männer gedenkt, die mit ihrer revolutionären Frage ganz Jerusalem in Aufruhr brachten. Die Gelehrten – die im Laufe der Zeit durch den Volksglauben selbst gekrönt wurden – standen nämlich erst einige Tage nach der Geburt Jesu in Bethlehem. Dort fielen sie vor dem Säugling auf die Knie, huldigten ihm und brachten ihm kostbare Geschenke, die damals tatsächlich eines Königs würdig waren.

      Weise, wohlangesehene Männer beten ein kleines, schutzbedürftiges Kind an und preisen es als neuen Herrscher. Das ist tatsächlich revolutionär, denn damit werden die Gesandten zum Sinnbild eines einzigartigen Machtwechsels in der Geschichte der Menschheit: von vergötterten Herrschern zum verherrlichten Gott, von der Unterwerfung zur Hingabe, von der Gewalt zur Liebe und von irdischen zu himmlischen Zielen.

      Herodes hätte sich um seinen Thron keine Sorgen machen müssen. Den hat Jesus nie beansprucht. Und doch bringt er Weltreiche ins Wanken, weil er die Menschen auffordert, Gott in ihrem Leben über alles zu setzen. Insofern könnten die heiligen Drei auch heute noch hereingestürmt kommen und sinngemäß fragen: »Na, wer ist der König? In deinem Leben?«

      JANUAR

      7

       Sieben

      Sieben Zwerge, sieben Geißlein, sieben Tage, sieben Schwaben, Siebenschläfer, sieben Siegel, siebenarmige Leuchter und Siebenbürgen: Heute ist der 7. Januar – und in den großen Geschichten dreht sich oftmals alles um diese eigenartige, seit Jahrtausenden heilige Zahl Sieben, die für Vollkommenheit steht und Menschen fasziniert.

      Sieben! Meine Lieblings-Siebener-Geschichte steht – wie könnte es bei einem Pfarrer auch anders sein – in der Bibel. Eines Tages kommt der ziemlich dreiste Jünger Petrus zu Jesus und sagt: »Wie oft soll man eigentlich jemandem vergeben, der sich an einem versündigt hat? Reichen siebenmal?« Offensichtlich war »siebenmal« damals so die gesellschaftlich geforderte Größe. Und schon das finde ich ziemlich viel. Siebenmal: »Gut, ich vergebe dir!« Ganz gleich, was der andere getan hat. Respekt!

      Aber Jesus geht noch viel weiter. Er sagt: »Siebenmal reicht nicht. Weißt du, wie oft du vergeben sollst? Siebzigmal siebenmal.« Und das war nichts anderes als ein Ausdruck für »unbegrenzt, immer wieder«. »Ja«, erklärt Jesus, »Gott vergibt den Menschen doch auch immer wieder. Ihr könnt befreit leben, weil ihr eure Schuld an Gott abgeben könnt. Und deshalb sollt ihr auch gnädig sein.«

      Noch ist das Jahr jung, und noch kann man Weichen stellen. Es könnte doch sein, dass dieses Jahr ganz anders verläuft, wenn wir dem einen oder anderen vergeben, gegen den wir seit Jahren einen Groll mit uns herumtragen. Denn unser Problem ist ja in der Regel nicht das siebte, sondern das erste Mal. Und einer, der es tatsächlich schafft, siebzigmal siebenmal zu vergeben, hat irgendwie Größe. Finde ich.

      JANUAR

      8

       Die Kunst des Lachens

      »Wir lachen immer dann, wenn etwas Lebendiges von etwas Mechanischem überdeckt wird.« Klingt hochgebildet. Kein Wunder, stammt ja auch von dem Philosophen und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson. Einem der wenigen Gelehrten, die sich ihr Leben lang mit der Kunst des Lachens beschäftigt haben.

      Und Henri Bergson war sicher: Wir müssen das Dasein von allen zur Gewohnheit erstarrten oder im Laufe der Zeit sinnentleerten Strukturen befreien. Und das machen wir am besten durchs Lachen. Weil uns Lachen darauf aufmerksam macht, was in der Welt nicht stimmt. Ja, wir lachen immer dann, wenn etwas nicht wirklich lebendig ist, sondern irgendwie künstlich, aufgesetzt, lächerlich eben.

      Um die Verkrustungen des Lebens zu überwinden, braucht man »Lebensschwung«. Zumindest war der große Denker aus Paris der Überzeugung, dass man entweder schwungvoll oder ritualisiert leben könne.


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