Im Nebel auf dem Wasser gehen. Adrian Plass

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Im Nebel auf dem Wasser gehen - Adrian Plass


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ein grausiger Irrtum gewesen und er hätte bleiben und Kompromisse machen und heiraten und Kinder haben und viele, viele Male den Frühling genießen können.

      Ich habe keine Ahnung, ob es so war oder nicht. Es ist eine Frage der Interpretation und Spekulation, aber wir dürfen spekulieren. Der Schriftsteller und Rundfunkpublizist Rabbi Lionel Blue bemerkte einmal, das Judentum sei sein Zuhause, nicht sein Gefängnis. Das scheint mir auch für Christen eine gesunde Sichtweise zu sein. Im geistlichen Sinn gibt es im Reich Gottes weder den furchtbaren Zustand der Agoraphobie noch den der Klaustrophobie. Je sicherer und glücklicher wir in unserem Zuhause sind, desto wohler werden wir uns dabei fühlen, hinauszugehen und auszukundschaften, was sonst noch so in der Straße los ist.

      Doch bei allem, was wir nicht genau wissen können, über eines können wir ziemlich sicher sein: Obwohl er die Seligkeit des Himmels kannte, „bevor Abraham war”, sah Jesus dem, was auf ihn zukam, mit Schrecken entgegen. Zugleich wusste er jedoch, dass wahre Sicherheit nur durch Gehorsam zu finden ist. Wie immer sagte er „ja“ zu seinem Vater. Im Herzen all dessen steckt ein faszinierendes Paradox, das sich stets um ein Haar jeder Definition entzieht, zumindest soweit es mich betrifft. Es ist eine Wolke, ein Nebel, gebildet aus einer Vielzahl scheinbarer Widersprüche.

      Mensch und Gott. Gehorsam oder Ungehorsam. Erfüllt mit dem Geist und verlassen. Tot und lebendig. Gescheitert und siegreich. Natürlich und übernatürlich. Gewöhnlich und außergewöhnlich. Gesetz und Gnade. Von dieser Welt und nicht von dieser Welt.

      Manchmal dreht sich in mir alles mit dem schwindelerregenden Gefühl, ich stünde direkt am Rande einer Offenbarung, die so angefüllt ist mit Licht und Liebe und endgültiger Gewissheit, dass nichts mich je wieder verletzen oder meinen Frieden stören könnte; und so verrückt es sich anhört, im tiefsten Herzen spüre ich, dass das, was offenbart wird, zweifellos und auf geheimnisvolle Weise etwas sein wird, was ich bereits weiß. Vielleicht klingt es, als hätte es keine Bedeutung, aber ich erinnere mich daran, wie C. S. Lewis schildert, dass in uns, wenn wir wahre Schönheit hören oder sehen, ein schmerzliches Gefühl des Heimwehs aufsteigt, des Heimwehs nach etwas (oder jemandem), was wir nie hatten und in dieser Welt nie haben werden. Der instinktive Drang zum Himmel. Er steckt in uns. Wir leben damit, und er ist unser ständiger Begleiter. Freilich kommt er in vielen seltsamen und fast undurchdringlichen Tarnungen daher.

      Derselbe Jesus, der in Gethsemane Blut schwitzte, ist hier im Haus bei Kathleen und bei uns. Sie ist vollkommen sicher. Er wird ihre Hand ergreifen, wenn es für sie Zeit ist zu gehen, und ich bete inständig, dass das Gehen nicht zu schwer für sie wird.

       Jesus berühren

      Während Kathleen im Sterben liegt, ist Jesus auch in Gestalt unserer Gemeinde bei uns. Manchmal machen mir die Leute Vorhaltungen, weil ich die Kirche attackiere, aber ich habe mir nie vorgenommen oder es darauf angelegt, das zu tun. Ich liebe den Leib Christi, also die Kirche, und während der letzten Wochen haben Bridget und Kathleen und ich gesehen, was der Ausdruck „Leib Christi“ bedeuten kann, wenn es hart auf hart kommt. Ja, ich weiß, dass Liebe und Fürsorge auch in weltlichen Gemeinschaften ebenso zu finden sein können, aber das ist in Ordnung so. Schließlich hat Gott sie erfunden. Die Welt, die er gemacht hat, mag gefallen sein, aber man sieht überall in der Schöpfung seine Fingerabdrücke und seine Fußspuren, manchmal auch da, wo man es am wenigsten erwartet.

      Wir haben viel Liebe erfahren. Wissen Sie noch, was Paulus über den Leib Christi sagt?

      Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten; und die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und bei den unanständigen achten wir besonders auf Anstand; denn die anständigen brauchen's nicht. Aber Gott hat den Leibzusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben, damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.

      Der Teil des Körpers, zu dem wir gehören, hat zweifellos mit Kathleen und mit uns mitgelitten. Abgesehen von der Unterstützung im Gebet haben wir Hilfe in vielfältiger Gestalt erfahren. Wir haben eine junge, unbändig energiegeladene Welsh-Border-Collie-Hündin namens Lucy, die etliche Male zu den Spaziergängen abgeholt wurde, die sie so sehr liebt. Leute haben für uns gekocht und für uns gesorgt, damit wir eine Pause einlegen konnten. Sie haben uns besucht und Blumen und Briefe geschickt. Unser umgewandeltes Esszimmer wird in Duft und Aussehen einem Blumengeschäft immer ähnlicher. Der Vikar, der für unsere Gemeinde verantwortlich ist, ist zweimal gekommen, um mit Kathleen die Kommunion zu feiern. Sie liebt das und wir ebenso. Bridget und Kathleen und ich machen dann ja drei Viertel der Gemeinde aus. Es ist ein ganz besonderes Vorrecht, das Geheimnis und die kosmische Bedeutung des Brotes und des Weins hier in diesem kleinen Zimmer zu haben, nur für uns drei. Gott hat hervorragende Ideen, finden Sie nicht auch? Dies ist eine der besten. Die gewaltige Wirklichkeit des geistlichen Lebens und des Heils in so eindrücklichen, erdverbundenen Symbolen wie Brot und Wein wurzeln zu lassen, ist ein unübertreffliches Meisterwerk.

      Ja, der Leib Christi hat uns gestärkt und aufrecht gehalten und geschützt. Man vergisst leicht, dass diese Begegnungen mit Jesus durch die Hände und Herzen unserer Brüder und Schwestern geistliche Erfahrungen sind, die den abstrakteren, mehr überweltlich numinosen Begegnungen, die sich in formell religiösen Situationen abspielen, keineswegs nachstehen. Warum fällt es uns so schwer, das zu akzeptieren? Jeder, der jemals eine Familie hatte, sollte in der Lage sein, das Prinzip zu verstehen. Bridget und ich haben drei Söhne und eine Tochter und es gibt nicht viel, was uns mehr Freude macht, als zu wissen, dass sie sich treffen, sich umeinander kümmern und es genießen, zusammen zu sein. Wenn das geschieht, ist das wie eine Rechtfertigung oder Beglaubigung unserer Elternschaft. Ja, gut, in unserem Fall mag wohl ein ziemlich kindisches Element in dieser Reaktion enthalten sein, aber zumindest hilft es uns zu verstehen, wie unser himmlischer Vater es empfindet, wenn die Mitglieder seiner Familie einander lieben und sich umeinander kümmern. Am Ende des Johannesevangeliums spricht Jesus über eben dieses Thema:

       Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, wenn ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.

      Bei allem angebrachten Respekt – ist da nicht der Anflug des Tonfalls einer besorgten Mutter herauszuhören?

      „Ich muss weg, und ihr müsst mir versprechen, gut aufeinander aufzupassen. Ihr vergesst es doch nicht, oder? Liebt einander. Das ist mir sehr wichtig. Versprecht es mir.”

      Die heilige und geheimnisvolle Wahrheit ist, dass wir als Christen, wenn wir einander berühren, Jesus berühren. Wenn es eine Berührung der Fürsorge und der Liebe ist, lächelt der Himmel auf uns herab, und derselbe Gott, der durch den siebenundzwanzigsten Vers des ersten Kapitels des Jakobusbriefes spricht, sagt mit der Zufriedenheit eines stolzen Vaters: „Schaut euch das an. Das nenne ich wahre Religion!”

      Ich danke Gott für Kathleen Rosa Ormerod, für ihre Sturheit, ihre Großzügigkeit, ihre Loyalität, ihre zupackende Fürsorge, ihre unerschütterliche Liebe zu ihren Freunden, ihr prinzipientreues Leben, ihre Tapferkeit und für die Verwundbarkeit, die wir in diesen letzten Wochen an ihr sehen konnten. Ich danke Gott für alles, was sie ist, und alles, was sie getan hat. Am liebsten wäre mir, sie würde weiterleben, aber vor allem will ich Gottes Bestes für sie, was immer das sein mag.

       Kapitel 2


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