Tod eines Clowns. Petra Gabriel

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Tod eines Clowns - Petra Gabriel


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leid, die finanziellen Löcher zu stopfen. So wurde der Zirkus Barlay kurzerhand zum volkseigenen Betrieb umgewandelt. Das weckte neue Hoffnungen, mobilisierte noch einmal Kräfte. Und für eine kurze Zeit wurde es tatsächlich besser.

      Holger Gericke verzog den Mund und drehte den Kopf, schaute zum Fenster der Elektrischen hinaus. Er wollte nicht, dass seine Frau Anita ihm ansah, worüber er nachdachte. Er war der Mann, er hatte Zuversicht auszustrahlen – und gab sich deshalb gelassen. Doch seine Gedanken kreisten voller Wehmut um die vergangenen guten Tage. Es brach ihm beinahe das Herz bei der Erinnerung an das, was sie verloren hatten.

      Gustav Brumbach hatte sich nach der Flucht von Barlay getrennt und einen eigenen Zirkus aufgemacht. Holger Gericke hatte gehört, dass auch dieser vor dem Aus stand. Das konnte er kaum glauben. Vielleicht wollte er es auch einfach nicht glauben. Während er seine eigene Flucht plante, hatte er insgeheim gehofft, bei Barlays früherem Kompagnon ein Engagement als Dompteur zu bekommen. Schließlich hatte Brumbach es ihm versprochen. «Sie sind einer der Besten, die ich kenne, Gericke. Wann immer Sie sich entschließen, uns nachzuziehen, kommen Sie zu mir! In meinem Zirkus gibt es immer einen Platz für einen guten Dompteur», hatte er getönt.

      Und dann, vor einigen Tagen, war auch noch der Betriebsleiter des VEB Zentral-Zirkus, Harry Michel, in den Westen geflüchtet. Am 13. März. Holger Gericke würde dieses Datum nicht vergessen. Er verstand Michel sogar. Dieser hatte sich bis zuletzt gegen die Zentralisierung gewehrt. Seine Flucht war ein herber Schlag für Gericke, denn Michel war sein letzter Unterstützer gewesen, einer, der seinen eigenen Kopf hatte. Als ihm die Stellung als Pressechef beim Circus Busch Berlin in Aussicht gestellt wurde, ging er. Mit Werner Weber, Michels Stellvertreter, kam Gericke einfach nicht klar.

      Da hatten er und seine Frau gewusst, dass auch für sie der Zeitpunkt gekommen war, ihr Zuhause zu verlassen und in den Westen zu gehen.

      Müller hatte ihn sofort nach Michels Flucht zu sich zitiert und ihm einen gehörigen Warnschuss verpasst. Anfangs hatte Gericke nur mit halbem Ohr hingehört. Hauptsache, er nickte an den richtigen Stellen. Jeder wusste, dass Müller einer war, der im Dienste der Staatssicherheit große Ohren machte. Doch dann hatte er gesagt: «Gericke, denken Sie nicht mal an Flucht! Sie würden es bereuen. Barlay hat es bereut, und Brumbach wird es bereuen. Ebenso wie Michel. Sie werden sehen, der bleibt nicht lange Pressechef bei Busch. Auch in Westdeutschland erkennen sie Verräter. Unser Land blutet aus. Zu viele gute Leute gehen, angezogen von den Verlockungen eines ausbeuterischen, kapitalistischen Systems. Statt beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen, laufen sie feige davon. Geben Sie uns keinen Anlass zu glauben, dass Sie solche Pläne hegen! Gericke, ich spreche zu Ihnen als Freund. Seit dem Zusammenschluss von Barlay und Busch zum VEB Zentral-Zirkus im Januar hat sich vieles geändert. Ich rede jetzt mal Klartext: Sie sind ein guter Artist, wir wollen Sie nicht verlieren. Und was ich über Ihren Sohn höre, klingt auch sehr vielversprechend. Ich habe erst neulich mit einem Freund geredet, der im Gebäude des Kulturzentrums sitzt. Der behauptet, der Leiter der Staatlichen Artistenschule habe Thomas in den höchsten Tönen gelobt. Gericke, die Mutter Ihrer Frau wird ohnehin bald sterben. Soweit ich weiß, hat sie Krebs. So hart das vielleicht klingen mag, aber die Zukunft Ihres Sohnes ist doch wichtiger als eine alte Frau, die nicht mehr lange zu leben hat.»

      Es war absurd. So richtig und so falsch zugleich. Aber wie auch immer die Situation sein mochte – Anita würde ihre Mutter nie im Stich lassen. Er wusste das und hatte sich sofort heimlich Arbeit im Westen gesucht. Aus dem einst gefeierten Dompteur einer gemischten Raubtiergruppe würde ein Pausenclown und Stallarbeiter auf Probe bei Reiz werden. Der kleine Familienzirkus hatte sich draußen in Kladow ein Winterquartier in einem alten Bauernhof eingerichtet und tingelte das ganze Jahr über durch die West-Berliner Bezirke, um Vorführungen zu geben – mit einem Zweimastzelt, einer kleinen Manege, einem Pony, Kamelen, einem Lama, einer Hundedressur, Clowns, Jonglagen und einer Seiltänzerin, die ihre besten Jahre bereits hinter sich hatte und viel Schminke benötigte, um jung zu wirken. Dann war da noch der alte Braunbär mit den grauen Haaren an der Schnauze, der in seinem Käfig sehnsüchtig in die Ferne starrte oder rhythmisch den Kopf hin und her schwang, um den Hals eine Eisenkette, die an einem Betonklotz befestigt war.

      Bei Reiz packte jeder überall mit an. Viel Geld gab es nicht. So hatte sich Gericke für ein paar Stunden die Woche eine Stelle als Aushilfstierpfleger im Zoologischen Garten verschafft.

      Und nun saßen sie hier in der Elektrischen. Ob seine Tiere im Zentral-Zirkus ihn schon vermissten? Ein wenig vielleicht. Doch bald hätten sie ihn vergessen. Der bereits lendenlahme Leopard, die beiden alten Löwinnen und der Bär hatten stets fleißig mitgemacht – und er ließ sie für eine einzige Hoffnung im Stich: dass in West-Berlin nicht die politische Überzeugung ausschlaggebend war, sondern das, was ein Mensch leistete, und dass man für sein Geld auch etwas bekam. Vielleicht würde er ja irgendwann wieder in den Raubtierkäfig zurückkehren können und einen Zirkus finden, der ihm eine neue Chance gab. Dieser Wunsch trieb ihn an. Immerhin durfte er im Zoo aufgrund seiner Erfahrungen bei den Raubtieren mithelfen.

      Gericke schaute wieder zu seiner Familie. Sie hatten in der Elektrischen sogar alle vier Sitzplätze beieinander bekommen. Jetzt mussten sie nur noch diese Fahrt, nur noch eine einzige Kontrolle überstehen, dann waren sie West-Berliner. Er beugte sich vor, nahm die Hand seiner Frau Anita und küsste sie.

      In ihren Augen schimmerten Tränen, doch sie hielt sie zurück und lächelte ihrem Mann erneut zu. «Wir konnten nichts anderes tun, Holger. Es ist schon richtig so. Wenn wir mal alt sind, wollen wir bestimmt auch nicht, dass unsere Kinder uns im Stich lassen.»

      Die dreizehnjährige Monika schmiegte sich an die Mutter, die trotz des Frühlingstags ihren Pelz trug. Sie alle hatten mehrere Lagen Kleidung übereinandergezogen. Es war besser, nicht durch einen Koffer aufzufallen, wenn man mit der Elektrischen von Berlin-Ost nach Berlin-West reiste. Das weckte nur Aufmerksamkeit bei den Kontrolleuren.

      Sohn Thomas schaute mit muffigem Gesicht am Vater vorbei nach draußen. An den Bäumen links und rechts der Straße bildeten sich die ersten Knospen, doch das konnte den Jungen nicht aufheitern. Er hatte sich mit Händen und Füßen gegen die Umsiedlung in den Westen gewehrt. Holger Gericke verstand seinen Sohn. Der hatte in der Artistenschule hart gearbeitet. Er war talentiert und auf dem besten Wege, ein guter Hochseilartist zu werden. Aber nun musste er von vorne beginnen, wie der Vater. Thomas kannte seine Großmutter kaum. Für diese alte Frau, deren Leben zu Ende ging, musste er seinen großen Traum aufgeben. Wer die Staatliche Artistenschule absolviert hatte, bekam ohne Probleme eine Anstellung im Zirkusbetrieb. Der Siebzehnjährige war allerdings alt und klug genug, um zu begreifen, dass das nur für zuverlässige Volksgenossen galt. Und für die Söhne von zuverlässigen Volksgenossen. Nicht für die Söhne von Republikflüchtlingen.

      Ein weiteres Ruckeln, ein Quietschen – Endstation. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Jetzt mussten sie nur noch an den beiden Männern vorbei, die den Übergang bewachten. Die unterhielten sich gerade. Einer lachte. Der andere nickte der vierköpfigen Familie zu und blickte dann wieder seinen Kollegen an. Gericke atmete auf. Der Übergang war passiert. Der goldene Westen lag vor ihnen. Dennoch erreichten die Sonnenstrahlen dieses Frühlingstags zwar die Haut von Holger Gericke, nicht aber sein Herz. Ihm war, als schöbe sich ein dunkler Schleier zwischen ihn und seine Umgebung, als drücke ihn plötzlich eine harte Hand nieder. Er bemühte sich zum wiederholten Mal, sich nichts anmerken zu lassen. Ihm wurde heiß, er schaute zurück. Die Grenzer beachteten sie nicht. Er schälte sich aus seiner Winterjacke und half seiner Frau aus dem Pelz. Auch die Kinder legten die oberste Schicht ihrer Kleidung ab.

      In etwa einer halben Stunde würden sie in Moabit sein, in der Turmstraße. Dort wartete ein Zimmer zur Untermiete auf sie. Holger Gericke hatte seiner Anita bestimmt hundert Mal erzählt, woher er Karl, den Inhaber der Wohnung, kannte. Karl hatte nach dem Krieg auch mal beim Zirkus Barlay gearbeitet, unter anderem als Clown und Tierpfleger. Der ehemalige Akrobat war mit einem kaputten Bein von der Ostfront zurückgekehrt. Da war es mit den Salti vorbei gewesen. Sie hatten auch nach Karls Weggang von Barlay lose Kontakt gehalten. Und unter Artisten half man einander. So hatte Karl Holger Gericke unter die Arme gegriffen, als der eine Bleibe in West-Berlin suchte.

      In der Turmstraße lebte Karl den Winter über. Wenn Menschen und Tiere wieder auf


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