Das Abenteuer meiner Jugend. Gerhart Hauptmann

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Das Abenteuer meiner Jugend - Gerhart Hauptmann


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an­fangs in ei­nem Akt des Über­muts ge­gen mich rich­te­te, hät­te mich bei­nah ums Le­ben ge­bracht. Er zeig­te mir Bo­xer­kunst­stücke. Erst schlug er mich auf die obe­ren Arm­mus­keln, und ich klei­ner Pix box­te weid­lich zu­rück. Dann sag­te er: »Stell dich vor mich hin!«, was ich so­gleich ge­hor­sam aus­führ­te. Er ball­te die Faust, er beug­te und streck­te den ge­straff­ten Arm, wo­bei er mir spie­le­risch ge­gen den Ma­gen ziel­te. Dann stieß er vor, mit der Ab­sicht na­tür­lich, noch vor der Berüh­rung mei­nes Kör­pers in­ne­zu­hal­ten. Aber er hat­te sich nicht in der Ge­walt und die Ent­fer­nung falsch be­rech­net. So ge­sch­ah es, dass mir die Faust in den Ma­gen fuhr, mir den Atem raub­te und mich stracks auf die Erde warf, wo ich mich, mit Er­sti­ckung rin­gend, laut­los um­her­wälz­te.

      *

      Ge­org war da­mals üb­ri­gens ganz be­son­ders kämp­fe­risch auf­ge­legt und fand in mir den be­geis­ter­ten Part­ner und Geg­ner. Mit lan­gen, bieg­sa­men Wei­den­ger­ten schlu­gen wir auf­ein­an­der ein. Das Kampf­spiel war nach Art ei­ner Jagd ar­ran­giert, bei der Ge­org das Wild, Bru­der Carl, ich und ei­ni­ge be­vor­zug­te Dorf­jun­gen die Meu­te wa­ren. Der Kraft­über­schwang des vom vie­len Sit­zen und Büf­feln über­sät­tig­ten Pri­ma­ners führ­te bei die­ser Hetz über Trep­pen, Kor­ri­do­re und Dach­bö­den, durch Säle, Kü­chen, Stäl­le und Gär­ten, über Zäu­ne, Lei­tern und fla­che Dä­cher hin­weg, wo­hin wir ihm über­all un­ent­wegt nach­stürm­ten. Gna­de in der Ver­tei­di­gung kann­te er nicht. Und ich, wie ich wahr­heits­ge­mäß zu be­rich­ten habe, kei­ne Furcht. Es war ein Mut, der da­mit rech­ne­te, dass nur Schmerz, nicht aber der Tod in Fra­ge kam. Und Schmerz zu er­lei­den schreck­te mich nicht. Die Schlä­ge der Wei­den­ger­te saus­ten um­sonst in mein Ge­sicht und lie­ßen große Schwie­len dar­auf zu­rück. Kei­nen Au­gen­blick hemm­ten sie mein ent­schlos­se­nes Vor­ge­hen. So trug auch Ge­org sei­ne Schwie­len da­von.

      Die­ses Os­ter­ver­gnü­gen war eine tol­le und wil­de Ra­se­rei, al­les Bis­he­ri­ge die­ser Art über­stei­gend.

      *

      Ich hat­te den Ein­druck, dass mein äl­tes­ter Bru­der mir ein be­son­de­res In­ter­es­se zu­wand­te. Vi­el­leicht war es ihm über­ra­schend, zu er­ken­nen, welch selt­sa­mes Frücht­chen in mir her­an­ge­wach­sen war, von dem er so gut wie nichts wuss­te. Er hat­te wohl an­de­res zu tun ge­habt in den kur­z­en Fe­ri­en­zei­ten der Ver­gan­gen­heit, als sich mit ei­nem klei­nen Bru­der zu be­schäf­ti­gen, der üb­ri­gens selbst kei­nen An­schluss such­te und über­all ei­ge­ne Wege ging. Nun aber, da Ge­org sel­ber die männ­li­che Rei­fe er­langt hat­te und ihm der für sein Al­ter noch kind­li­che Bru­der fer­ner ge­rückt und frem­der ge­wor­den war, schi­en es ihm einen Reiz zu ge­wäh­ren, ihn wo­mög­lich all­sei­tig zu er­grün­den.

      Oder hat­te er viel­leicht von mei­nem Va­ter den heim­li­chen Auf­trag dazu?

      Es war nicht leicht, mich ver­trau­lich zu ma­chen, so­lan­ge das wohl­er­zo­ge­ne Bür­ger­kind dem Pro­le­ta­ri­er­jun­gen von der Stra­ße den Platz ge­räumt hat­te. Denn die­ser hat­te in sich die Ab­nei­gung sei­ner Klas­se ge­gen die hö­he­re, ihre Ver­steckt­heit, ihr Miss­trau­en und eine Scheu, man kön­ne in die ihm lieb­ge­wor­de­ne Sphä­re in­di­vi­du­el­ler Frei­heit ein­grei­fen.

      Der für sei­ne zehn Jah­re noch über­aus zar­te und kind­li­che Kna­be, der ich ge­we­sen sein muss, hat wohl dem er­wach­se­nen Bru­der mehr als ein­mal Ent­set­zen er­regt, wenn er ihn, ver­trau­lich ge­macht, in ge­wis­se Ab­grün­de we­ni­ger sei­ner Gas­sen- als sei­ner Gos­sen­er­fah­rung bli­cken ließ. Um mich nicht kopf­scheu zu ma­chen, stell­te er sich bei mei­nen Er­öff­nun­gen harm­los amü­siert. In Wirk­lich­keit, wie er mir spä­ter sag­te, sind ihm die Haa­re zu Ber­ge ge­stie­gen.

      Üble und schmut­zi­ge Hand­lun­gen gab es nicht zu beich­ten oder sonst mit­zu­tei­len. Da­ge­gen hat­ten sich umso mehr häss­li­che Rei­me­rei­en wan­dern­der Stra­ßen­bar­den mei­nem Ge­dächt­nis ein­ge­prägt. Sie sind von ei­ner so aus­ge­sucht Ra­be­laiss­chen und auch zwei­deu­ti­gen Art, dass ich nicht dar­an den­ken kann, sie mit­zu­tei­len. Ich hat­te sie trotz al­ler Ro­heit und Ge­mein­heit wie et­was ganz Selbst­ver­ständ­li­ches hin­ge­nom­men, al­ler­dings auch mit ei­ner im Grun­de un­be­tei­lig­ten Sach­lich­keit.

      Nicht ohne deut­li­ches Un­be­ha­gen spür­te ich da­mals, dass ich nicht mehr al­lent­hal­ben so un­be­ach­tet und un­ge­hemmt da­hin­le­ben konn­te wie bis­her. Über­ra­schen­de Fra­gen und Mah­nun­gen mei­ner Mut­ter, eine stren­ge­re Fest­le­gung des­sen, was ich au­ßer dem Hau­se tun durf­te, durch den Va­ter und schließ­lich so­wohl Rü­gen als Un­ter­richts­ver­su­che mei­ner Schwes­ter Jo­han­na be­läs­tig­ten mich. Be­son­ders an mei­ner Schwes­ter habe ich die Em­pö­rung über den neu­en Zu­stand im­mer wie­der bis zur Ra­se­rei aus­ge­las­sen.

      *

      Im Üb­ri­gen war durch Bru­der Ge­org, der von der Fa­mi­lie mehr und mehr als Er­wach­se­ner be­han­delt wur­de, ein fri­scher Luft­zug ins Haus ge­kom­men. Nicht nur hat­te er al­ler­lei lus­ti­ge Schul­ge­schich­ten mit­ge­bracht, er war auch er­füllt von Er­leb­nis­sen der Tanz­stun­de, ei­nem Kur­sus, den mitz­u­ma­chen ihm der Va­ter er­laubt hat­te. Mit mei­ner Schwes­ter als Dame tanz­te Ge­org uns Pol­ka und Wie­ner Wal­zer vor und den schwe­ren Ma­su­rek, des­sen schwie­ri­ge Pas wir mit Mühe nach­ahm­ten. Der Tanz­meis­ter mit sei­nen ko­mi­schen Kom­man­dos, sei­nen An­wei­sun­gen, die hüb­schen jun­gen Da­men re­so­lut an­zu­fas­sen, wur­de gleich­sam leib­haf­tig durch sei­ne Schil­de­rung, und end­lich wur­de durch ihn un­ter Bil­li­gung und Ge­nug­tu­ung mei­nes Va­ters die Dis­kus­si­on von al­ler­lei Fra­gen am Fa­mi­li­en­tisch in Gang ge­bracht.

      Mein Va­ter schi­en sei­nen Söh­nen schwei­gend ent­ge­gen­zu­le­ben. Er war­te­te gleich­sam dar­auf, sie er­wach­sen zu se­hen, um Stüt­zen und Freun­de an ih­nen zu ha­ben. Mit mei­ner Mut­ter gab es Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten, wir kann­ten sie gleich­sam als täg­li­ches Brot.

      Mit dem Auf­tre­ten des Pri­ma­ners Ge­org fing die Er­ör­te­rung all­ge­mei­ner Fra­gen an, in die sich mein Va­ter, als ob ihn da­nach ge­hun­gert hät­te, gern ver­wi­ckel­te. Sie ent­ho­ben ihn ei­ner Iso­lie­rung, wie mir scheint, zu der er sich selbst für Jahr­zehn­te ver­ur­teilt hat­te. Sein We­sen wäh­rend die­ser Zeit war wie das ge­gen je­der­mann: Schweig­sam­keit, ja Un­nah­bar­keit. Sei­ne Äu­ße­run­gen gin­gen nir­gend über das im so­zia­len Ver­kehr un­be­dingt Er­for­der­li­che hin­aus; selbst mei­ne Mut­ter ist ver­ge­bens im­mer wie­der ge­gen die Burg­mau­ern sei­ner Ver­schlos­sen­heit Sturm ge­lau­fen. Nun aber, Ge­org ge­gen­über, und so­mit auch Carl und mir ge­gen­über, trat er of­fen aus sich her­aus.

      Es gab in un­se­rer Fa­mi­lie »Auf­trit­te«. Mein und be­son­ders Carls Tem­pe­ra­ment konn­te ohne der­glei­chen Hö­he­punk­te nicht aus­kom­men. Schwes­ter Jo­han­na reiz­te uns durch ge­heu­chel­te Käl­te. Sie ver­ar­bei­te­te ihre Auf­trit­te in­ner­lich. Bei­spie­le, wel­che das Tem­pe­ra­ment mei­ner Mut­ter und mei­nes Va­ters durch hef­ti­ge Auf­trit­te be­stä­tig­ten, sind in die­sen Blät­tern schon an­ge­führt. Spä­te­re Vor­fäl­le wer­den be­wei­sen, dass mein Bru­der Ge­org in die­ser Be­zie­hung viel­leicht am stärks­ten be­las­tet war und ge­le­gent­lich von


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