Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens. Hans-Joachim Höhn

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Praxis des Evangeliums. Partituren des Glaubens - Hans-Joachim Höhn


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Bezug genommen wurde.51 Eine theologische Beschreibung von Ereignissen, in denen ein „Wort Gottes“ ergeht, und eine theologische Ermittlung, inwieweit dieses Wort als Gotteswort ergeht, setzt jedoch viel zu spät ein, wenn sie nach Zeugnissen eines „Sprechens“ Gottes in der Geschichte oder nach seinem Widerhall im Menschenwort sucht. Weder der Einsatz bei einem geoffenbarten „Gesetz“ Gottes noch beim Auftreten von Propheten als den Kündern seiner Weisungen an das Volk Gottes und auch nicht die Sammlung von Jesusworten über das „Reich Gottes“ bieten einen angemessenen Ausgangspunkt. Vielmehr ist dort zu beginnen, worauf alle diese Einstiege zurückverweisen: Bereits die Erschaffung der Welt ist Ereignis von Gottes Wort bzw. ein von Gottes Geist inspiriertes Wortgeschehen.

      Die priesterschriftliche Schöpfungserzählung Gen 1,1–2,4a erinnert mit Nachdruck daran, dass alles, was ist, als „creatura verbi“ anzusehen ist. Nach Gen 1,1–2,4a ist die einzige Wirkursache des Daseins das Wort Gottes, welche eine unförmige, nichtige und lebensfeindliche Wirrnis in einen Lebensraum überführt, der sich durch lebensermöglichende, wohltuende Unterschiede auszeichnet.52 Gen 1,1–2,4a zeigt einen Gott, dessen Geist über den Wassern schwebt (Gen 1,2) und dessen Wort ein Chaos zu einem Kosmos, d. h. zu einem wohlgeordneten Ganzen macht, das daseins-, identitäts- und bedeutungsermöglichende Unterschiede aufweist. „In der Kraft des Lebensatems Gottes, in dem das schöpferische Wort Gottes über die Welt ertönt und den Gott seiner Welt einhaucht, entsteht aus dem Chaos der wohlgeordnete Kosmos der Schöpfung.“53 Durch Gottes Geist und Wort wird ein Unterschied von Sein und Nichts zugunsten des Seienden konstituiert, der wiederum weitere wohltuende Unterscheidungen ermöglicht. Schöpfung ist Überwindung chaotischer, nichtiger Unbestimmtheit und Ungeschiedenheit. Das „Tohuwabohu“ vermag von sich aus diesem heillosen Durcheinander keine Umrisse zu geben, durch die es zu etwas wird, das als etwas da ist. Übersetzt man diesen Sachverhalt in die Sprache der Ontologie, so ergibt sich: Das diffuse Chaos enthält alles der Möglichkeit nach. Darin liegt seine ungeheure Mächtigkeit, seine Potenz – aber auch seine bloße Potentialität, d. h., in ihm ist alles bloß möglich, aber nichts wirklich. Etwas zum Dasein bringen heißt aber, es aus der Möglichkeit ins Wirkliche überführen. Dasein besteht darin, das Mögliche auf das Wirkliche hin zu überschreiten. Zu einer solchen Selbstüberschreitung ist aber im Chaos nichts von sich aus fähig. Und auch das Chaos selbst kann nicht von sich aus den Unterschied vom Möglichen zum Wirklichen überschreiten. Daher kommt ihm auch nicht die Funktion eines Seinsprinzips zu.54

      Hingegen wird in Gen 1–2,4a Gott als derjenige bestimmt, der den Unterschied zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten konstituiert. Allein Gott ist es, der von dem Unförmigen, Formlosen und Lebensfeindlichen dasjenige unterscheidet, das durch diese Unterscheidung Gestalt und Form annimmt und dergestalt am Leben ist. Ohne Gottes Wort gäbe es nicht den Unterschied von Sein und Nichts, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit.

      Wenn solchermaßen geschöpfliches Dasein nicht als Resultat eines Machens oder Herstellens, nicht als Resultat eines In-Form-Bringens einer göttlichen Urmaterie oder eines evolutiven Gestaltwerdens kraft einer Emanation des Seins verstanden wird, sondern als „Schöpfung durch das Wort“ bestimmt wird, dann ist die „Verfassung“ der Welt in der Dimension der Sprachlichkeit zu sehen.

      Der Prolog des Johannesevangeliums verknüpft diese Sichtweise mit einer Logos-Theologie (Joh 1,1–18). Dabei dient die Kategorie „Logos“ zunächst dazu, das Selbstverhältnis Gottes zu bestimmen („Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“). Mit ihr lässt sich ebenso das Gottesverhältnis der Welt und das Weltverhältnis Gottes kennzeichnen.55 Aus theologischer Sicht hat das Geschaffensein der Welt die Eigentümlichkeit eines „Sprachereignisses“: „Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“ (Joh 1,3). Wenn alles, was es gibt, durch das Wort Gottes hervorgerufen ist, dann existiert es „im Wort“. Aber auch Gott ist bei seiner Schöpfung „im Wort“. Sie ist durch das Wort geschaffen – Ergebnis seines Zuspruchs von Dasein, Identität und Freiheit. Hierbei handelt es sich um ein Wort, das, indem es ergeht, jene Wirklichkeit vergegenwärtigt, auf die sich das Wort bezieht. Unter dieser Rücksicht ist es kennzeichnend für das „Wort Gottes“, dass es performativ und nicht bloß signifikativ bedeutsam ist: Es bezeichnet nicht einen Sachverhalt, der unabhängig vom Akt der Bezeichnung besteht. Vielmehr wird dieser Sachverhalt hervorgebracht, indem das ihm geltende Wort ergeht.56

      Auf dieses schöpferische Wort Gottes sind alle Ereignisse in Welt und Geschichte zu beziehen, wenn von ihnen behauptet wird, dass darin Gott zur Sprache kommt. Diesen Anspruch können sie nur erheben und einlösen, wenn sie verstehbar sind als Übersetzung von Gottes Schöpferwort in die Lebensverhältnisse des Menschen. Dass der Mensch ein solches Wort aufnehmen und weitersagen kann, ist in seiner Geschöpflichkeit begründet. Das „Im-Wort(Gottes)-Sein“ macht die Verfassung seines Daseins aus und präzisiert, was unter der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen zu verstehen ist: In seiner Sprachlichkeit findet sich auf Seiten des Menschen eine Entsprechung zu jener Hinsicht, wodurch sich Gott als Gott erweist und was sein Weltverhältnis konstituiert. Das „Ebenbild“ Gottes ist der Mensch, wenn er in seinen Lebensverhältnissen Gottes unbedingtes Ja zum Menschen mitspricht, umsetzt und übersetzt. Der Mensch ist das Wesen, das im Hören-Sagen des Wortes Gottes existiert, d. h., er vermag dem Dasein und Freiheit zusprechenden Wort Gottes in seiner eigenen Existenz zu antworten. Ein Mensch kann Gott und seinem Wort „entsprechen“, wenn er derart im Modus des Hören-Sagens existiert, dass er sein Menschsein selbst im Modus des Freispruchs und Zuspruchs, des Setzens wohltuender Unterschiede verwirklicht und auf diese Weise „fruchtbar“ (vgl. Gen 1,28) werden lässt.57 Wenn für das Wort Gottes gilt, dass es daseins-, identitäts- und freiheitskonstitutiv ist, dann muss dementsprechend für jede Berufung auf ein solches Wort ihrerseits gelten:

      Ob eine von Menschen verkündete Botschaft als „Wort Gottes“ ergehen kann, bemisst sich danach, inwieweit sich diese Botschaft so verstehen lässt, dass sie realisiert, wovon sie spricht, d. h., in dieser Botschaft darf nicht bloß „von“ oder „über“ Gott gesprochen werden. Vielmehr muss in ihrer Verkündigung das Schöpfungsversprechen Gottes Realität werden: das Ja-Wort unbedingter Anerkennung von Existenz, Identität und Freiheit.

      Auf dieser Basis lässt sich nun auch ein angemessenes Verständnis der Rede von der Selbstvergegenwärtigung Gottes in der „Inkarnation“ des Wortes Gottes gewinnen. Bereits im Schöpferwort spricht sich Gott aus, d. h., sein Schöpferwort legt aus und übersetzt, wie Gott auch „für sich“ ist: unbedingte Zuwendung. Jede weitere Rede von einem „Wort Gottes“ in der Geschichte wird darum nichts anderes meinen können als eine Auslegung und Übersetzung dieses Wortes in die Lebensverhältnisse des Menschen. Wenn das Christentum auf eine „Inkarnation“ des Wortes Gottes verweist und dies mit Person und Schicksal Jesu von Nazareth in Beziehung setzt, dann ist damit zunächst gemeint, dass Jesus dem Selbst- und Menschenverhältnis Gottes in der Sprachform seiner Existenz entspricht. Auch er existiert im Hören-Sagen des Wortes Gottes, dessen Vollzug seinen Inhalt realisiert: voraussetzungslose Zuwendung. In und mit seinem Dasein wird das Schöpferwort Gottes interpersonal formatiert im Modus der Zusage von Freiheit und Identität – im Setzen wohltuender Unterschiede zwischen Leben und Tod, im Freisprechen des Menschen von Schuld und Versagen. Was die Besonderheit Jesu ausmacht, ist der Umstand, dass er das Wort Gottes „in Person“ ist.58 Eben dies zeichnet ihn als Gott entsprechenden Menschen in besonderer Weise aus, dass durch ihn offenbar wurde, wie jeder Mensch Gott entsprechen kann.

      Dass im Schöpferwort Gottes „Geist und Leben“ (Gen 6,17; 7,15) sind, gilt auch für die Übersetzung dieses Schöpferwortes im Leben und Handeln Jesu. Er redet nicht über Gottes Geist und Wort, sondern handelt in diesem Geist und bringt durch sein Tun das Weltverhältnis Gottes neu zur Sprache. Unter diesem doppelten Vorzeichen steht bereits der Beginn seines Lebens. Der Geist Gottes, der über den Wassern der „Urflut“ schwebte, „überschattet“ die Mutter Jesu (Lk 1,35), er „ruht“ auf Jesus (vgl. Lk 4,18).59

      Das Leben und Wirken Jesu vor diesem Hintergrund ein vom Geist Gottes bewirktes „Sprachereignis“ zu nennen, bedeutet mehr, als darin bloß die Ankündigung einer Zusage Gottes zu sehen. Vielmehr sind sein Leben und Sterben zugleich Realisierung


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