Trotz allem - Gardi Hutter. Denise Schmid
Читать онлайн книгу.Licht, Musik, Übergänge, Gags, Videoeinspielungen. Zum Auftakt sitzt Hanna im Schneidersitz auf dem Tisch, näht an einem weissen Kleid, nickt kurz ein, der Kopf kippt nach vorne. Die lange Nadel pikst ihre dicke, rote Nase. Hanna schreckt auf, quiekt, der erste Lacher nach 15 Sekunden. «Ich merke in der ersten Minute, ob ein Abend gut wird oder nicht», sagt Gardi Hutter. Dahinter steckt nicht nur die jahrelange Erfahrung, sondern auch ihr ausgeprägtes kommunikatives Sensorium. Sie kann sich enorm gut auf verschiedenste Situationen und Menschen einlassen, vor allem auch auf einen gefüllten Saal vor ihr. Im stummen Dialog mit dem Publikum, mit Mimik und Gestik, schafft sie den Energieaustausch mit den Menschen und läuft dabei zur Hochform auf – die perfekte Eigenschaft einer Clownin.
Irgendwann kommt die Anmachszene, in der sie ins Publikum geht, einen gut aussehenden jungen Mann auf die Bühne holt, sich mit ihm auf den Tisch setzt und ihm mit ihrer unnachahmlichen Hanna-Art schöne Augen macht. Man kann nicht anders, als über dieses verzweifelt noch ein letztes Mal Liebe suchende Wesen mit dem verfilzten Haarschopf, den rollenden Augen und der dicken Clownnase zu lachen. Grossartig, wie sich die unförmige Hanna im Gegenlicht zu Joe Cockers «You Can Leave Your Hat On» lasziv im Halbdunkel auszieht. Danach steht sie in weisser Unterwäsche, in Form von Hemd und Hose, da und sieht plötzlich aus wie ihr sphärisches Gegenüber, ihre Seele im Spiegel. Das Publikum johlt und lacht. Und es war nie billig oder schlechter Geschmack, sondern nur lustig, bewegend und anrührend, weil zutiefst menschlich.
Nach siebzig Minuten stirbt Hanna freiwillig. Sie sieht die Seele ihres Vogels im Spiegel flattern und will ihm folgen. Sie spannt hinter sich ein weisses Segel auf, im Tisch öffnet sich ein Grab, sie steigt hinein, lässt vor sich ein wallendes, hellblaues Stück Stoff herabfliessen, fixiert es so an der Grabklappe, dass das Bild eines Boots im Wasser entsteht, winkt – ganz Kapitänin auf ihrem Schiff – und versinkt leise.
Das Licht geht aus, Klatschen, Jubel. Aus dem Dunkel taucht die erleichterte Gardi Hutter auf, verbeugt sich, nimmt dankbar den Applaus entgegen und bittet das ganze Team auf die Bühne. «Beim Schlussapplaus an der Premiere weine ich vor Erleichterung.» Hinter der Bühne umarmen sich alle Beteiligten lange und intensiv. Es hat geklappt, es war toll. Freude pur. Und Gardi Hutter strahlt diesmal in die Kamera von «10 vor 10», erhitzt, erschöpft, erlöst und rundum glücklich. Es gibt noch eine Premierenfeier im Haus für geladene Gäste, und nach Mitternacht sinkt sie ins Bett. «Ich kann, ich will dann an nichts mehr denken, nur noch schlafen!»
1953 bis 1966
Drei Brüder und eine katholische Erziehung
Frühling 1956, ein Sonntagnachmittag im St. Galler Rheintal, drei Kinder in einer Blumenwiese. Gardi Hutter in der Mitte, mit üppigem Blumenstrauss, glattem, blondem Bubikopf, im Trägerröckchen. Fest steht sie da, der Blick etwas kritisch, fragend. Die Kleine zwischen den grösseren Brüdern. Links Erwin, der Älteste, trotziger Mund, dunkleres Haar als die Geschwister, in der Hand eine Blume. Rechts Fredi, der Zweitgeborene. Beide Buben in denselben Shorts mit Kurzarmhemd und Pullunder. Die Kleider der Kinder hat die Mutter selbst genäht. Der vierte im Bunde fehlt auf dem Bild: Gilbert, der Jüngste. Er sitzt im Kinderwagen, kann noch nicht so schnell mitlaufen, wenn die drei Hutter-Kinder durch die Frühlingswiese toben. «Still halten und lächeln», hat Vater Erwin wohl befohlen. Nur Fredi folgt der Anweisung, Gardi und Erwin bleiben ernst. Morgens war die Familie in der Kirche, dann hat die Mutter gekocht. Am Nachmittag geht es noch etwas an die frische Luft. Am Montag wird wieder gearbeitet. Den Eltern gehört das Modehaus E. Hutter in Altstätten. Dort verkaufen sie Mäntel, Hosen, Jacken, Anzüge, Hemden, Blusen, Röcke und lassen im Schneideratelier im Haus Säume kürzen, Nähte anpassen und Kleider nach Mass anfertigen.
Es ist das dritte Kind, das im März 1953 in der Wiege liegt. Irmgard haben sie es getauft. Kaum jemand wird sie je so nennen. Vielleicht mal ein Beamter beim Blick in den Pass oder eine Lehrerin bei der Verlesung einer Klassenliste. Sie heisst Gardi, von Anfang an, Gardi Hutter. In den ersten 28 Jahren ist es ein Name wie viele andere auch. Mit dem 5.3.53 hat sich die kleine Gardi ein besonderes Datum für die Geburt ausgesucht. Dass sie mal berühmt wird, hat man ihr nicht in die Wiege gelegt.
Sie ist die erste Tochter und hat zwei grosse Brüder: Erwin, der wie der Vater heisst und fünf Jahre älter als Gardi ist. Und der 1950 geborene Wilfried, den auch nie jemand so nennt, weil er der Fredi ist. Zwei Jahre nach Gardi kommt 1955 ein weiterer Sohn zur Welt, Gilbert. Nun ist die Familie komplett. Vier Kinder sind in diesem Milieu wenig, verglichen mit den grossen katholischen Bauernfamilien wie jenen der Eltern Erwin und Irma Hutter nur eine Generation zuvor. Das junge Paar ist zwar noch ebenso religiös wie die Vorfahren, aber einen Hof bewirtschaftet es nicht. Sie haben beide Schneider gelernt und führen seit wenigen Jahren ein kleines Modehaus. Es ist eine aufstrebende katholische Kleinbürgerfamilie, in die Gardi Hutter als einziges Mädchen hineingeboren wird. Eine Herkunft, die ihre Kinder- und Jugendjahre stark prägen und noch lange Zeit nachwirken wird.
DIE ELTERN
Erwin Hutter und Irma Dietsche wachsen in den 1920er- und 1930er-Jahren in Kriessern auf. Die Hutters wohnen im Unterdorf mit zwölf Kindern, sieben Söhne und fünf Töchter. Sie sind ärmer als die Dietsches im Oberdorf, die acht Kinder haben, fünf Söhne und drei Töchter. Erwin und Irma kennen sich schon seit Kindertagen, im Dorf kennt jeder jeden. Er ist 1919 geboren, sie 1923.
Weil in beiden Familien jeweils nur ein Sohn den Hof übernehmen kann, müssen sich die Geschwister anderweitig umschauen. Erwin Hutter kommt 1935 aus der Schule. Da wird gerade eine Schneiderlehrstelle in der Umgebung frei. Man fragt nicht lange nach Talenten oder Interessen. Erwin hat grosse, kräftige Hände. Für die Arbeit auf dem Bauernhof ist er bestens geeignet. In der Schneiderlehre leidet er zu Beginn, weil die kräftigen Bauernhände Nadel und Faden beinahe nicht zu fassen kriegen. Vom vielen Sitzen bekommt er Rückenschmerzen, aber er beisst sich durch. Eine Lehre ist eine Chance auf einen Beruf, der einst eine Familie ernähren kann. Danach folgt die Rekrutenschule, in der er als Bursche das Pferd eines Vorgesetzten pflegt. Gerne würde er nach der Rekrutenschule, wie damals üblich, auf die «Stör», das heisst im Ausland auf Wanderschaft gehen. Aber es ist 1939, der Krieg bricht aus, Erwin Hutter wird eingezogen und leistet zwei Jahre Aktivdienst an der Grenze. Zwischendurch wird er immer mal wieder vom Dienst freigestellt und kann in der Herrenkleiderfabrik Lenox in Altstätten arbeiten. Dort werden Uniformen genäht, und er verdient etwas mehr als nur den kargen Sold. Der Bauernsohn ist voller Tatendrang und möchte etwas erreichen im Leben. Er macht seinen Meistertitel und eignet sich in Abendkursen kaufmännisches Wissen an. Nach Kriegsende eröffnet er mit seiner Schwester Angela eine kleine Massschneiderei an der Obergasse in Altstätten. Vom Ersparten haben sie sich eine Nähmaschine im Wert von 600 Franken gekauft, einen Bügel- und einen Arbeitstisch zu 270 Franken und Stoffe für 97 Franken. Berücksichtigt man die Teuerung, lassen sich die Zahlen zum heutigen Wert ungefähr mit fünf multiplizieren. Ein bescheidener Anfang, aber der 26-jährige Mann ist geschäftstüchtig, ein guter Schneider, und er möchte heiraten. Erwin Hutter beginnt sich für Irma Dietsche, Bauerntochter aus dem gleichen Dorf, zu interessieren. Doch die will zunächst nichts von ihm wissen.
Auch sie ist nicht ganz freiwillig Schneiderin geworden. In der Schule hatte sie ausschliesslich Bestnoten. Zu gerne hätte sie eine Sekundarschule besucht und anschliessend das Lehrerseminar. Traumberuf Lehrerin. Für ihre bäuerlichen Eltern sind das Flausen. Zu viel Bildung macht bei Frauen keinen Sinn und vereitelt womöglich die Heiratschancen. Die Realschule genügt. Später erzählt Irma Hutter ihren Kindern, dass sie über das Verbot, Lehrerin zu werden, drei Tage lang geweint habe.
Eine von Irmas älteren Schwestern ist bereits Schneiderin. Ein guter Beruf, findet der Vater, und so lernt die Jüngere ebenfalls das Schneiderhandwerk. Die Autorität der Eltern ist damals Gottes Gesetz, und Irma begehrt nicht auf. Erst als sie achtzig Jahre alt ist, wird sie Gefühle des Zorns hochkommen lassen und grollen: «Wir Mädchen waren allesamt nur Mägde.»
Dass Irma ihren Verehrer Erwin zunächst zurückweist, kann ihr Vater nicht nachvollziehen. Er ist begeistert