Lasst uns um Europa kämpfen. Nini Tsiklauri
Читать онлайн книгу.Appetit auf Cornflakes oder Müsli hatten. Wir bauten Obst und Gemüse selbst an und gingen vor die Tür, wenn wir Lust auf einen Salat hatten. Statt Wasserhähnen hatten wir einen Brunnen, statt auf einen Lichtschalter zu drücken, zündeten wir den Docht in einer Petroleumlampe an. Wir lebten auf einer Farm voller Nutztiere, beschützt von einem Wachhund, einem weißen Schäfer namens Kusa. Wir fielen in der Zeit zurück, aber wir hatten alles, was man Ende der Neunzigerjahre in der Region Imeretien zum Überleben brauchte.
Meine Eltern beschlossen, sich in der Hauptstadt wieder ihrem Studium zu widmen. Mein Bruder und ich blieben bei den Großeltern und erkundeten unseren neuen Stern.
Es ist ein stinknormaler Schultag in Georgien 1998. Ich bin spät dran, der Bus muss gleich da sein. Tatsächlich, er steht schon da. Ich laufe vom Haus zu einem alten, klapprigen orangenen UDSSR-Omnibus, der vorm Nachbarhaus parkt. Kusa läuft mir bis zum Ende des Zauns hinterher. Es ist jeden Morgen dasselbe. Aus alter ungarischer Gewohnheit glaube ich an eine pünktliche Abfahrt und fange an zu rennen. Ich hätte auf allen Vieren herankriechen können und es hätte auch noch gereicht. Der Busfahrer steigt gemütlich aus und versinkt mit skeptischem Blick in den Anblick seiner Reifen.
»Niniko, steig ruhig ein, es geht gleich los!«, sagt er zu mir und klettert wieder rein.
Ich grüße ihn und steige vorne ein. Der Bus ist noch leer, obwohl er weit und breit der einzige ist, der hier fährt. Ich setze mich gleich neben dem Busfahrer auf das große Armaturenbrett. Ich mag diesen Platz, von dort hat man die beste Aussicht. Dabei schaue ich mir nicht die Landschaft an, ich beobachte lieber die Menschen. Mit einem Ruck wirft der Fahrer den höllisch lauten Motor an, auf dem ich quasi sitze. Der ganze Bus wackelt, brummt, ächzt und fährt dann mit geöffneten Türen an. Am ersten Tag hat mich das noch gewundert, jetzt bin ich daran gewöhnt.
Der Busfahrer heißt Bitschiko, aber alle nennen ihn liebevoll Bitschiko Babua, was so viel heißt wie Bitschiko Opa. Er trägt ein kurzärmliges hellblaues Hemd, eine hellgraue Hose und geschlossene braune Ledersandalen. Vom ersten Moment an habe ich ihn ins Herz geschlossen, und immer noch muss ich lächeln, wenn er in seiner ganzen Konzentriertheit und Ernsthaftigkeit zu mir herüberschaut, schmunzelt und lustige Geschichten über die Gewohnheiten der Fahrgäste erzählt.
Die Schule liegt in der nächstgrößeren Stadt. Der Weg nach Samtredia ist lang, wild und löchrig wie Omas Weichkäse. Was früher mal eine Ampel war, ist heute ein Vogelnest. Als Fahrer verlässt man sich hier auf seinen Instinkt. Wegen des einen oder anderen Schlaglochs haben wir alle im Bus schon die Bekanntschaft mit der Decke gemacht. Nach und nach steigen mehr Leute ein, der Bus füllt sich. Bei den letzten Haltestellen in der Stadt gibt es nicht einmal mehr genug Platz zum Stehen.
Endstation: Straßenbazar. Bitschiko Babua hält neben anderen ähnlich orangenen Bussen, die aus anderen Gegenden ankommen, manche etwas heller, andere etwas dunkler. Ich winke Bitschiko zu und steige aus. Jetzt noch der Weg vom überlaufenen Straßenbazar bis zu meiner kleinen Schule nahe dem Stadtzentrum, es ist ein abenteuerlicher Fußmarsch.
Ich kämpfe mich durch Marktstände. Verkäuferinnen preisen ihre Peraschki und Ponschiki an, süße und pikante russische Teigtaschen. Vorbei an Gemüse-, Obst- und Käseständen schlängle ich mich durch und in die Stadt hinein. Entlang der Straßen verlaufen die Abwassergräben, die größtenteils mit Algen zugewachsen und Heimat unzähliger Frösche sind. Ihr Quaken gehört genauso zu den Stadtgeräuschen wie das Rattern der Motorradrikschas, das Klappern der Marschrutkas, jene Kleinbus-Taxis, die ihre Kunden einsammeln, und das Brummen der Riesenbusse.
Ich passiere ein massives, hohes, heruntergekommenes Wohngebäude. Die Fassaden waren mal königsblau und weiß gewesen, hat mir meine Oma erzählt, aber die Farbe sieht man bloß noch hinter den großen rostigen Flecken hervorlugen. Zu besseren Zeiten war es ein Hotel, hat sie mir erklärt, heute leben Flüchtlinge drin.
»Flüchtlinge? Woher denn?«, fragte ich meine Oma.
»Aus unserem eigenen Land«, antwortete sie nachdenklich.
»Aber, Bebo«, sagte ich, »Flüchtling im eigenen Land, das gibt’s doch gar nicht.« Ich weiß zwar, dass meine andere Oma, die in Tiflis wohnt, ursprünglich aus Südossetien stammt, aber ich brachte das damals noch nicht mit dem Kaukasuskonflikt in Zusammenhang. »Und überhaupt«, sagte ich, »warum leben sie alle auf einem Haufen in einem alten Hotel und gehen nicht woanders hin?«
»Weil ihre Heimat in ihrer Region Abchasien ist, wie unsere hier in Imeretien. Sie wurden dort vertrieben und dürfen nicht mehr in ihre Häuser zurück, sie mussten alles zurücklassen und sind jetzt sehr arm. Deswegen leben sie nun gemeinsam hier und halten zusammen. Ihnen kann niemand helfen.«
Wir schwiegen und starrten die Fassade an.
»Können wir Ihnen nicht helfen, Bebo? Glaubst du, sie können jemals wieder nach Hause?«, fragte ich und zog an ihrem Arm.
»Ehhh«, seufzte sie laut und schaute mich eindringlich mit ihren großen blauen Augen an.
Dieses Ehhhh fällt mir seither jeden Tag ein, wenn ich an dem Flüchtlingshotel vorbeikomme. Dann stehe ich vor meiner Schule, die eher einer kleinen Militärbasis gleicht als einer Bildungseinrichtung. Man nennt sie die Russische Schule, und der Name ist Programm. Eilig schiebe ich mich mit den anderen Kindern in die Klasse. Wir sehen alle gleich aus in der obligatorischen Sowjet-Schulkleidung. Oberste Regel ist: Mädchen tragen Röcke, Jungs Hosen, das wird hier sehr ernst genommen. Zweite Regel: Im Unterricht wird ausschließlich Russisch gesprochen, das ist hier die Zweitsprache, die jeder können soll. Tatsächlich beherrscht sie auch jeder. Außer mir, ich kann nur Ungarisch.
In der Klasse sitzen alle steif aufrecht, die Hände auf dem Tisch, der Blick an die Tafel. Niemand bewegt sich. Die große Russischlehrerin mit dem massiven Körperbau, den blondierten zurückgesteckten Haaren und den grimmigen Gesichtsausdruck gibt jede Menge Hausübungen auf. Der alte Holzboden knirscht, wenn sie näherkommt und mein Kyrillisch kontrolliert. Das ist jetzt schon die dritte Schrift nach Georgisch, die ich lernen muss.
Die Klingel beißt die Anspannung durch und erlöst mich in die Pause. Zur Jause gibt es nur etwas bei der nächstbesten Peraschki-Verkäuferin außerhalb der Schule. Kantine kennt man hier keine, ebenso wenig wie Toiletten, was noch weit schlimmer ist. Für den äußersten Notfall bleibt ein winziges Häuschen neben der Schule, mit kaputtem Steinboden und ohne Türe. Da muss man es schon wirklich eilig haben. So gesehen ist der Schultag immer auch eine Art Wettrennen, kann man es aushalten oder nicht? Anfangs fand ich die Zustände unzumutbar. Aber so wie mit jeder Minute der Schultag kürzer wird, wird mit jedem Tag die Erinnerung an die andere Welt in Ungarn blasser.
Nach dem Unterricht gehe ich erst mal zu meiner absoluten Lieblings-Imbissbude in der Nähe der Schule und hole mir einen langen, knusprigen Chili-Kartoffel-Peraschki, den ich mit beiden Händen halten und direkt aus dem Papier mampfen muss. Dann geht’s zum traditionellen Tanzunterricht ins große Kulturhaus und danach zum Klavierunterricht ins Künstlerhaus, das so desolat ist, dass man die Klassen im Stockwerk darunter durch große Löcher im Boden sehen kann. Zuletzt mache ich mich auf den Weg zum Arbeitsplatz meiner Oma, wo sie immer schon auf mich wartet. Es ist der beste Teil des Tages.
Meine Oma ist jeden Morgen um vier Uhr auf den Beinen. Daheim kümmert sie sich um den Haushalt und das Vieh, dann arbeitet sie bis abends mit ihrem Frauen-Kollektiv in einer Einrichtung für Gesundheitsschutz und Schädlingsbekämpfung. Wenn ich den Raum betrete, platze ich immer in eine fröhliche Runde. Die Frauen arbeiten und tratschen, das gehört zusammen. Es sind sieben völlig unterschiedliche Frauen, die sich da um Bebo scharen. Lia, die Charismatische und meine Lieblingstante; Eteri, ihre ältere Schwiegermutter; Nino, die Cleverste; Meriko, die Süßeste; Mediko, die weise Apothekerin; Nana, meine fleißige Oma, die Person, die ich auf der Welt am meisten liebe; und jetzt auch ich, die Jüngste von allen. Sie sind seit ein paar Jahren unzertrennlich, die sechs Frauen, sie unterstützen sich gegenseitig, sind Nanas engste Freundinnen und nun auch meine.
Irgendwann wird mir natürlich trotzdem langweilig. Die Frauen sind ein ganzes Stück älter als ich, da decken sich die Interessen und Gesprächsthemen nicht völlig. Aber das macht nichts, ich schleiche mich mit meinen Hausübungen in das kleine Büro des Chefs,