Das geschenkte Mädchen. Martin Arz

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Das geschenkte Mädchen - Martin Arz


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du es noch kaputt. Sieht mir verschärft nach Nok aus.«

      »Das steht da auch drauf. Du kennst dich aus mit so was, Pettenkoferin?« Pfeffer war ehrlich erstaunt.

      »Ich fresse nicht nur Kuchen in mich rein, Maxl«, kokettierte Doktor Gerda Pettenkofer mit ihrer gewaltigen Leibesfülle. »Hab neulich was gelesen, dass diese Nok-Sachen sauviel wert sind und jetzt auch in den Louvre aufgenommen wurden. Chirac höchstpersönlich hat ein paar solcher Figuren von einem belgischen Händler erstanden und dem Louvre geschenkt. War ein ziemlicher Skandal in Frankreich, denn wie sich schnell herausstellte, waren diese Figuren aus einem Museum in Nigeria gestohlen und …« Die Rechtsmedizinerin brach ab, weil Pfeffer sie mit demonstrativem Desinteresse anstarrte.

      Pfeffer und Kunst, da prallten oft genug zwei Welten aufeinander. Wenn es um Jazz, vor allem Nu- und Acid-Jazz ging, war er in seinem Element. Doch bei Malerei und Bildhauerei stieg er freiwillig aus, gut, zugegeben, er hatte in den letzten Jahren hauptsächlich durch seinen Freund Tim dazugelernt – aber egal, was er vor allem liebte, waren die Kabbeleien mit Doktor Gerda Pettenkofer.

      »Louvre?!«, wiederholte die Pathologin betont langsam. »Mona Lisa. Museum. Paris. Kultur. Du verstehen?«

      »Nö. Kann man das essen?« Pfeffer zündete sich eine Zigarette an. »Und wer oder was ist Nok? So jemand wie Picasso? Ein afrikanischer Picasso?«

      »Ach, Maxl!« Gerda Pettenkofer seufzte und verdrehte die Augen. »Das ist ein afrikanisches Volk. Oder war eins. Ausgestorben oder so. Ehrlich, ich habe nix damit zu tun! Die Sachen sind deshalb so viel wert, weil sie antik sind und bei Ausgrabungen gefunden wurden. Frag mich nicht, wo und wann. Okay?! Mehr weiß ich nicht. Echt nicht! Ihr könnt mich ruhig weiter mit euren Gestapo-Verhörmethoden fertig machen, ihr Bullenschweine!« Gerda machte eine trotzig abwehrende Handbewegung wie ein jugendlicher Hobbydealer, der schon nach wenigen Minuten Verhör weichgeklopft war und noch einmal den coolen Macker markierte, bevor er detailliert seine Hintermänner verpfiff. »Scheißbullen. Ich sage keinen Ton mehr! Gib mir lieber ’ne Kippe.«

      »Du siehst auch ganz schön fertig aus, Gerda.« Pfeffer schmunzelte und gab ihr noch Feuer zur Zigarette. »Faschingsparty? Oder probierst du wieder eine neue Diät aus?«

      »Weder noch, Maxl«, seufzte die Medizinerin und blies eine Kette von unförmigen Rauchringen aus, die ungelenk durch den Raum eierten, bevor sie sich auflösten. »Das mit dem Abspecken habe ich längst aufgegeben. Mir schmeckts einfach zu gut. Und letzten Herbst hast du nicht mal bemerkt, dass ich fünfundzwanzig Kilo abgenommen hatte. Ne, ich musste schon heute früh um fünf raus. Deine Kollegen haben eine völlig verkohlte Leiche in der Isar bei Wolfratshausen gefunden.«

      »Verkohlte Leiche unter Wasser. Dann tippe ich auf Selbstmord.«

      Die Pettenkoferin lachte dröhnend. »Ach, Maxl. Sah jedenfalls verdammt nach Profiarbeit aus. Wir werden vermutlich eine Ewigkeit brauchen, bis wir die Leiche identifiziert haben, wenn uns nicht die Vermisstenkartei weiterhilft. Und bei dem hier«, sie deutete auf die Leiche von Doktor Westphal, »tippe ich auch auf Profiarbeit. Sauber mit einem Stich die Bauchschlagader durchtrennt. Wenn es ein Mord im Affekt gewesen sein sollte, hat der Täter halt einfach Glück gehabt. Oh, pardon, so sollte ich nicht reden. Aber ich schätze, es war ein Profi, der wusste, was er tat. Genauer Bericht erst in zwei Tagen. Das Bündel verkohlter Knochen aus der Isar geht momentan vor.«

      04 Helene biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. Was sollte sie sagen, wenn sie der Alten gegenüberstand? Sie inhalierte tief, pumpte die Lungen voll eisige Luft. Beim Ausatmen beobachtete sie den Kältenebel, der aus ihrem Mund strömte. Herrliches Wetter für einen Winterspaziergang. Die Sonne strahlte grell, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Eigentlich könnte sie jetzt einfach weitergehen, hinunter zur Isar und in den Isar-Auen ein wenig herumbummeln. Vielleicht sah sie ein paar sportliche Ski-Langläufer oder herumtollende Hunde. Oder sie könnte auch ein wenig tagträumen, wie sie es manchmal tat. Sich Szenen aus den Aufzeichnungen von Leopold Konrad Frese vor ihr geistiges Auge rufen und ausschmücken. So wie die Szene mit der Schwarzen im europäischen Straßenkostüm, Frau Häuptling. Helene kannte die Stelle – wie auch zahlreiche andere – fast auswendig und malte sich aus, wie die große, würdevolle ebenholzfarbene Königin im raschelnden Seidenkleid, das Gesicht umrahmt von feinen Spitzen, auf dem Kopf ein Wagenrad von einem Hut, mitten im smaragdgrünen Urwald auf eine sonnenumschmeichelte Lichtung trat. Papageien jeglicher Couleur umschwirrten die majestätische Erscheinung …

      Helene tagträumte und ging ein paar Schritte an dem Haus vorbei. Sie war sich durchaus bewusst, dass ihre Phantasien immer kitschtriefender und exotischer wurden. Schluss damit, sagte sie zu sich selbst. Helene gab sich einen Ruck und kehrte um. Sie hatte einen Plan gehabt, und nur weil die Sonne schien, konnte sie ihn nicht einfach so aufgeben. Dazu hatte sie viel zu lange auf diese Gelegenheit gewartet. Sie hatte sie herbeigesehnt, ihr ganzes Leben schon. Zumindest so lange sie denken konnte und seit ihre Mutter die Geschichten erzählt hatte. Sie würde klingeln und alles andere würde sich schon irgendwie ergeben. Mehr als rausschmeißen kann sie mich nicht, dachte Helene. Und was, wenn sie mich tatsächlich rausschmeißt? Dann stehe ich wieder da, wo ich die ganze Zeit schon stehe. Oh Gott, ich muss so dringend pinkeln wie noch nie in meinem Leben!

      Helene überquerte die Straße und lief schnell zu dem Café, das schräg gegenüber lag, um ihre aufkommende Panik in die Kanalisation zu spülen. Als sie wieder auf die Straße trat, ging es ihr zwar keinen Deut besser, doch sie machte sich vor, endgültig zu dem entscheidenden Schritt entschlossen zu sein.

      Das Haus, in dem die Alte lebte, war völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Helene hatte nicht erwartet, mitten in der Innenstadt, mitten im Glockenbachviertel, ein kleines Zweifamilienhaus vorzufinden. Ein richtiges Hexenhaus mit schäbigem Dach und schmutzigbrauner Fassade. Die alten Holzfensterrahmen waren hellblau gestrichen. An der Straßenseite rankte sich das laubfreie Geäst eines Knöterichs bis unter die Dachrinne. Helene öffnete das Gartentor und betrat einen Garten in der Größe eines Handtuchs, der zwischen dem Hexenhaus und dem benachbarten Wohnhaus lag. Gebrochene Steinplatten bis zur Eingangstür, daneben ein Müllcontainer, die blaue Tonne für Altpapier und die braune für Bioabfall. Helene wäre beinahe auf den vereisten Platten ausgerutscht und drückte Halt suchend viel zu lange auf die Klingel.

      Nichts rührte sich im Haus. Womöglich war die Alte gar nicht daheim. Helene fühlte Enttäuschung und Erleichterung gleichzeitig. Sie läutete erneut. Dann wurde drinnen eine Kette vorgeschoben, dann noch eine, schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Ein altes, runzeliges Gesicht presste sich in den Spalt. Hellwache, wasserblaue Augen musterten Helene von oben bis unten. Die Tür wurde wieder geschlossen, erneutes Rasseln von zwei Ketten, dann wurde die Tür weit aufgerissen. Eine kleine, uralte Frau lächelte Helene an. Sie trug eine rosafarbene gestärkte Kittelschürze, ihre Beine steckten in dicken steingrauen Wollstrümpfen, sie trug keine Schuhe. Ihre silbergrauen, sorgsam ondulierten Haare bildeten einen seltsamen Kontrast zu der Hausmütterchenkleidung.

      »Grüß Gott, Frau Frese«, begann Helene und suchte gleichzeitig verzweifelt nach Worten. Sie hatte sich alles Mögliche ausgedacht, erst wollte sie sich als Spendensammlerin vom Roten Kreuz oder von der Heilsarmee ausgeben, dann als eine neue Mitarbeiterin der Anwaltskanzlei Beck, die noch etwas wegen des Testaments besprechen wolle, dann als eine freiwillige Helferin vom Katholischen Frauenbund … Jetzt schoss ihr auf einmal durch den Kopf, dass sie sich als Studentin ausgeben sollte. Ethnologie, Spezialgebiet Westafrika, auf der Suche nach Informationen über die Ndjamele.

      »Na, Sie sind aber ganz schön früh dran!«, unterbrach die Alte sie. »Ich hatte erst in einer Stunde mit Ihnen gerechnet. Na, Kind, kommen Sie mal rein. Immer rein in die gute Stube.« Sie lachte fröhlich und machte Helene Platz.

      Zögernd betrat Helene das Haus. Ihre Gedanken fuhren Karussell. Warum begrüßte die Alte sie, als hätte sie Helene erwartet?

      »Immer geradeaus und dann letzte Tür links in die Küche!«, rief die Greisin. Helene folgte dem Flur, der mit einer abenteuerlich gemusterten, ockerfarbenen Sechziger-Jahre-Tapete tapeziert war, und ging in die gemütlich warme Küche. Die Vorhänge an den Fenstern mochten vor Menschengedenken einmal weiß gewesen sein. Die


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