Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe


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      513. In natürlicher Wahrheit und Großheit, obgleich wild und unbehaglich ausgebildetes Talent ist Lord Byron, und deßwegen kaum ein anderes ihm vergleichbar.

      [87]514. Eigentlichster Werth der sogenannten Volkslieder ist der, daß ihre Motive unmittelbar von der Natur genommen sind. Dieses Vortheils aber könnte der gebildete Dichter sich auch bedienen, wenn er es verstünde.

      515. Hiebei aber haben jene immer das voraus, daß natürliche Menschen sich besser auf den Lakonismus verstehen als eigentlich Gebildete.

      516. Shakespeare ist für aufkeimende Talente gefährlich zu lesen; er nöthigt sie, ihn zu reproduciren, und sie bilden sich ein, sich selbst zu produciren.

      517. Über Geschichte kann niemand urtheilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. So geht es ganzen Nationen. Die Deutschen können erst über Literatur urtheilen, seitdem sie selbst eine Literatur haben.

      518. Man ist nur eigentlich lebendig, wenn man sich des Wohlwollens andrer freut.

      519. Frömmigkeit ist kein Zweck, sondern ein Mittel, um durch die reinste Gemüthsruhe zur höchsten Cultur zu gelangen.

      520. Deßwegen läßt sich bemerken, daß diejenigen, welche Frömmigkeit als Zweck und Ziel aufstecken, meistens Heuchler werden.

      521. »Wenn man alt ist, muß man mehr thun, als da man jung war.«

      522. Erfüllte Pflicht empfindet sich immer noch als Schuld, weil man sich nie ganz genug gethan.

      523. Die Mängel erkennt nur der Lieblose; deßhalb, um sie einzusehen, muß man auch lieblos werden, aber nicht mehr, als hiezu nöthig ist.

      524. Das höchste Glück ist das, welches unsere Mängel verbessert und unsere Fehler ausgleicht.

      [88]525. Kannst du lesen, so sollst du verstehen; kannst du schreiben, so mußt du etwas wissen; kannst du glauben, so sollst du begreifen; wenn du begehrst, wirst du sollen; wenn du forderst, wirst du nicht erlangen, und wenn du erfahren bist, sollst du nutzen.

      526. Man erkennt niemand an als den, der uns nutzt. Wir erkennen den Fürsten an, weil wir unter seiner Firma den Besitz gesichert sehen. Wir gewärtigen uns von ihm Schutz gegen äußere und innere widerwärtige Verhältnisse.

      527. Der Bach ist dem Müller befreundet, dem er nutzt, und er stürzt gern über die Räder; was hilft es ihm, gleichgültig durch’s Thal hinzuschleichen?

      528. Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und darnach handelt, der hat Wahres genug. Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.

      529. Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als in so fern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.

      530. Alles Abstracte wird durch Anwendung dem Menschenverstand genähert, und so gelangt der Menschenverstand durch Handeln und Beobachten zur Abstraction.

      531. Wer zu viel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verirrungen ausgesetzt.

      532. Nach Analogien denken ist nicht zu schelten: die Analogie hat den Vortheil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induction verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt.

      533. Gewöhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge ist ein Erbtheil des allgemeinen [89]Menschenverstandes, reines Anschauen des Äußern und Innern ist sehr selten.

      534. Es äußert sich jenes im praktischen Sinn, im unmittelbaren Handeln; dieses symbolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch Rede, uranfänglich, tropisch, als Poesie des Genies, als Sprichwörtlichkeit des Menschenverstandes.

      535. Das Abwesende wirkt auf uns durch Überlieferung. Die gewöhnliche ist historisch zu nennen; eine höhere, der Einbildungskraft verwandte, ist mythisch. Sucht man hinter dieser noch etwas Drittes, irgend eine Bedeutung, so verwandelt sie sich in Mystik. Auch wird sie leicht sentimental, so daß wir uns nur, was gemüthlich ist, aneignen.

      536. Die Wirksamkeiten, auf die wir achten müssen, wenn wir wahrhaft gefördert sein wollen, sind:

      vorbereitende,

      begleitende,

      mitwirkende,

      nachhelfende,

      fördernde,

      verstärkende,

      hindernde,

      nachwirkende.

      537. Im Betrachten wie im Handeln ist das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dieß läßt sich im Leben wie im Wissen wenig leisten.

      538. »Le sens commun est le Génie de l’humanité.«

      539. Der Gemeinverstand, der als Genie der Menschheit gelten soll, muß vorerst in seinen Äußerungen betrachtet [90]werden. Forschen wir, wozu ihn die Menschheit benutzt, so finden wir Folgendes:

      Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweis’t sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenverstand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so hat er die Aufgabe, die Räume der Gleichgültigkeit auszufüllen. Beschränkt sich dieses in die nächsten und nothwendigsten Gränzen, so gelingt es ihm auch. Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen heraus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr, die Region des Irrthums ist der Menschheit aufgethan.

      540. Es geschieht nichts Unvernünftiges, das nicht Verstand oder Zufall wieder in die Richte brächten; nichts Vernünftiges, das Unverstand und Zufall nicht mißleiten könnten.

      541. Jede große Idee, sobald sie in die Erscheinung tritt, wirkt tyrannisch; daher die Vortheile, die sie hervorbringt, sich nur allzubald in Nachtheile verwandeln. Man kann deßhalb eine jede Institution vertheidigen und rühmen, wenn man an ihre Anfänge erinnert und darzuthun weiß, daß alles, was von ihr im Anfange gegolten, auch jetzt noch gelte.

      542. Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen sagen: »Niemand muß müssen.« Ein geistreicher frohgesinnter Mann sagte: »Wer will, der muß.« Ein Dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: »Wer einsieht, der will auch.« Und so glaubte man [91]den ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntniß des Menschen, von welcher Art sie auch sei, sein Thun und Lassen; deßwegen auch nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen.

      543. Es gibt zwei friedliche Gewalten: das Recht und die Schicklichkeit.

      544. Das Recht dringt auf Schuldigkeit, die Polizei auf’s Geziemende. Das Recht ist abwägend und entscheidend, die Polizei überschauend und gebietend. Das Recht bezieht sich auf den Einzelnen, die Polizei auf die Gesammtheit.

      545. Die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen.

      546. Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hülfe ruft; aber nicht jene Schul- und Wortweisheit: es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war, ist und sein wird.

      547. Autorität, daß nämlich etwas schon einmal geschehen, gesagt oder entschieden worden sei, hat großen Werth; aber nur der Pedant fordert überall Autorität.

      548. Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwie wieder einmal von vorn zu gründen.

      549. Beharre, wo du stehst! – Maxime, nothwendiger als je, indem einerseits die Menschen in große Parteien gerissen werden, sodann aber auch jeder Einzelne nach individueller Einsicht und Vermögen sich geltend machen will.

      550. Man thut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen; [92]denn


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