Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe

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Maximen und Reflexionen - Johann Wolfgang Goethe


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      86. Die Menschen kennen einander nicht leicht, selbst mit dem besten Willen und Vorsatz; nun tritt noch der böse Wille hinzu, der alles entstellt.

      87. Man würde einander besser kennen, wenn sich nicht immer einer dem andern gleichstellen wollte.

      88. Ausgezeichnete Personen sind daher übler dran als andere: da man sich mit ihnen nicht vergleicht, paßt man ihnen auf.

      89. In der Welt kommt’s nicht drauf an, daß man die Menschen kenne, sondern daß man im Augenblick klüger sei als der vor uns Stehende. Alle Jahrmärkte und Marktschreier geben Zeugniß.

      [19]90. Nicht überall, wo Wasser ist, sind Frösche; aber wo man Frösche hört, ist Wasser.

      91. Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.

      92. Der Irrthum ist recht gut, so lange wir jung sind; man muß ihn nur nicht mit in’s Alter schleppen.

      93. Alle travers, die veralten, sind unnützes ranziges Zeug.

      94. Durch die despotische Unvernunft des Cardinal Richelieu war Corneille an sich selbst irre geworden.

      95. Die Natur geräth auf Specificationen wie in eine Sackgasse: sie kann nicht durch und mag nicht wieder zurück; daher die Hartnäckigkeit der Nationalbildung.

      96. Metamorphose im höhern Sinn durch Nehmen und Geben, Gewinnen und Verlieren hat schon Dante trefflich geschildert.

      97. Jeder hat etwas in seiner Natur, das, wenn er es öffentlich ausspräche, Mißfallen erregen müßte.

      98. Wenn der Mensch über sein Physisches oder Moralisches nachdenkt, findet er sich gewöhnlich krank.

      99. Es ist eine Forderung der Natur, daß der Mensch mitunter betäubt werde, ohne zu schlafen; daher der Genuß im Tabakrauchen, Branntweintrinken, Opiaten.

      100. Dem thätigen Menschen kommt es darauf an, daß er das Rechte thue; ob das Rechte geschehe, soll ihn nicht kümmern.

      101. Mancher klopft mit dem Hammer an der Wand herum und glaubt, er treffe jedesmal den Nagel auf den Kopf.

      102. Die französischen Worte sind nicht aus geschriebenen lateinischen Worten entstanden, sondern aus gesprochenen.

      [20]103. Das Zufällig-Wirkliche, an dem wir weder ein Gesetz der Natur noch der Freiheit für den Augenblick entdecken, nennen wir das Gemeine.

      104. Bemahlung und Punctirung der Körper ist eine Rückkehr zur Thierheit.

      105. Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.

      106. Was man nicht versteht, besitzt man nicht.

      107. Nicht jeder, dem man Prägnantes überliefert, wird productiv; es fällt ihm wohl etwas ganz Bekanntes dabei ein.

      108. Gunst, als Symbol der Souveränität, von schwachen Menschen ausgeübt.

      109. Es gibt nichts Gemeines, was, fratzenhaft ausgedruckt, nicht humoristisch aussähe.

      110. Es bleibt einem jeden immer noch soviel Kraft, das auszuführen, wovon er überzeugt ist.

      111. Das Gedächtniß mag immer schwinden, wenn das Urtheil im Augenblick nicht fehlt.

      112. Die sogenannten Naturdichter sind frisch und neu aufgeforderte, aus einer überbildeten, stockenden, manierirten Kunstepoche zurückgewiesene Talente. Dem Platten können sie nicht ausweichen, man kann sie daher als rückschreitend ansehen; sie sind aber regenerirend und veranlassen neue Vorschritte.

      113. Keine Nation gewinnt ein Urtheil, als wenn sie über sich selbst urtheilen kann. Zu diesem großen Vortheil gelangt sie aber sehr spät.

      114. Anstatt meinen Worten zu widersprechen, sollten sie nach meinem Sinne handeln.

      115. Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue [21]Antwort auf redliche Frage ist: Ja! ja! Nein! nein! Alles Übrige ist vom Übel.

      116. Die Menschen verdrießt’s, daß das Wahre so einfach ist; sie sollten bedenken, daß sie noch Mühe genug haben, es praktisch zu ihrem Nutzen anzuwenden.

      117. Ich verwünsche die, die aus dem Irrthum eine eigene Welt machen und doch unablässig fordern, daß der Mensch nützlich sein müsse.

      118. Eine Schule ist als ein einziger Mensch anzusehen, der hundert Jahre mit sich selbst spricht und sich in seinem eignen Wesen, und wenn es auch noch so albern wäre, ganz außerordentlich gefällt.

      119. Eine falsche Lehre läßt sich nicht widerlegen, denn sie ruht ja auf der Überzeugung, daß das Falsche wahr sei. Aber das Gegentheil kann, darf und muß man wiederholt aussprechen.

      120. Man streiche zwei Stäbchen, einen roth an, den andern blau, man bringe sie neben einander in’s Wasser, und einer wird gebrochen erscheinen wie der andere. Jeder kann dieses einfache Experiment mit den Augen des Leibes erblicken; wer es mit Geistesaugen beschaut, wird von tausend und aber tausend irrthümlichen Paragraphen befreit sein.

      121. Alle Gegner einer geistreichen Sache schlagen nur in die Kohlen, diese springen umher und zünden da, wo sie sonst nicht gewirkt hätten.

      122. Der Mensch wäre nicht der Vornehmste auf der Erde, wenn er nicht zu vornehm für sie wäre.

      123. Das längst Gefundene wird wieder verscharrt; wie bemühte sich Tycho, die Cometen zu regelmäßigen Körpern zu machen, wofür sie Seneca längst anerkannt!

      [22]124. Wie lange hat man über die Antipoden hin und her gestritten!

      125. Gewissen Geistern muß man ihre Idiotismen lassen.

      126. Es werden jetzt Productionen möglich, die Null sind, ohne schlecht zu sein, Null, weil sie keinen Gehalt haben, nicht schlecht, weil eine allgemeine Form guter Muster den Verfassern vorschwebt.

      127. Der Schnee ist eine erlogene Reinlichkeit.

      128. Wer sich vor der Idee scheut, hat auch zuletzt den Begriff nicht mehr.

      129. Unsere Meister nennen wir billig die, von denen wir immer lernen. Nicht ein jeder, von dem wir lernen, verdient diesen Titel.

      130. Alles Lyrische muß im Ganzen sehr vernünftig, im Einzelnen ein bißchen unvernünftig sein.

      131. Es hat mit euch eine Beschaffenheit wie mit dem Meer, dem man unterschiedentliche Namen gibt, und es ist doch endlich alles gesalzen Wasser.

      132. Man sagt: »Eitles Eigenlob stinket«. Das mag sein; was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publicum keine Nase.

      133. Der Roman ist eine subjective Epopee, in welcher der Verfasser sich die Erlaubniß ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe; das andere wird sich schon finden.

      134. Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug thut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.

      135. Das eigentlich wahrhaft Gute, was wir thun, geschieht größtentheils clam, vi et precario.

      [23]136. Ein lustiger Gefährte ist ein Rollwagen auf der Wanderschaft.

      137. Der Schmutz ist glänzend, wenn die Sonne scheinen mag.

      138. Der Müller denkt, es wachse kein Weizen, als damit seine Mühle gehe.

      139. Es ist schwer, gegen den Augenblick gerecht sein: der gleichgültige macht uns lange Weile, am guten hat man zu tragen und am bösen zu schleppen.

      140. Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.

      141. So eigensinnig widersprechend ist der Mensch: zu seinem Vortheil will er keine Nöthigung, zu seinem Schaden leidet er jeden Zwang.

      142. Die Vorsicht ist einfach, die Hinterdreinsicht vielfach.

      143. Ein Zustand, der alle Tage neuen


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