Kleines Bernstein. Rasa Aškinytė

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Kleines Bernstein - Rasa Aškinytė


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jung war. Sie, Selija, könnte nicht mehr so vom Wagen springen, das entspräche weder ihrem Alter noch ihrer Stellung. Selija ballte die Faust, die Fingernägel bohrten sich in ihre Hand. Sie könnte nicht mehr so herunterspringen. Nicht mehr. Sie drückte die Faust noch stärker zusammen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie vier bogenförmige Abdrücke, die erst nach mehreren Stunden verschwanden – früher verschwanden sie sofort, jetzt nicht mehr.

      Jene Frau aber, dieses Kind, schaute sich um, hielt sich am Wagen fest, als fiele sie zu Boden, wenn sie losließe. Vielleicht würde sie das ja wirklich, sie war so lange gefahren, wahrscheinlich ohne auszusteigen, niemand hatte sie rausgelassen. Sie schien verängstigt und zur Verteidigung bereit. Der Blick eines gefangenen Jungwolfs. Sollte sie sich ruhig fürchten, sie, Selija, aber hätte keine Angst, wovor auch?

      Die Männer luden die Sachen auf, sie schenkten den beiden Frauen keine Aufmerksamkeit. Selija tat so, als würde sie die Ladung prüfen und kam dem letzten Wagen immer näher. Sie wollte das gar nicht, aber sie tat es. Man kann den Feind nicht besiegen, wenn man ihn nicht kennt. Die Männer riefen einander immer wieder etwas zu, mehr Helfer herbei; Gondas hatte viele Männer, die Krieger durften zu ihren Frauen und Kinder gehen, die Speere und Schilde an die Wänden stellen, sie hatten ihre Arbeit getan, die Ladungen und Gondas sicher nach Hause gebracht.

      Gondas war ein guter Mann, er hatte Selija einen großen Silberarmreif mitgebracht, in der Mitte schmal, aber zu den Enden hin breiter; er hatte ihn ihr über die Hand gestreift, sein Gewicht ließ sie absinken. Selija berührte die Narbe, Gondas wich zurück. Er war noch nie vor ihr zurückgewichen, doch jetzt tat er das. Selija versuchte es noch einmal, aber Gondas wandte sich um und ging. Die Männer türmten die Waren zu riesigen Haufen auf, sie wussten, sie könnten später wiederkommen, um sich ihren Anteil zu nehmen, Gondas war gut, er würde alle gerecht entlohnen, sowohl die Mitgereisten als auch die Hiergebliebenen.

      Die Frau, das Beinahe-Kind, war anders. Sie hatte kein strohfarbenes, sondern leuchtend braunes Haar, gewellt, und hellbraune, glasklare Augen.

      »Das ist Glesum«, sagte Gondas.

      Selija zuckte zusammen, sie hatte gar nicht gespürt, wie er nähergekommen war; der Name ließ sie zusammenzucken, so einen hatte sie noch nie gehört, solches Haar, solche Augen, diesen Blick eines verängstigten Wolfjungen noch nie gesehen.

      »Sie ist stumm, niemand hat je ihre Stimme gehört, du kannst sie nichts fragen«, sagte Gondas.

      »Das sehe ich selbst«, erwiderte Selija.

      ›Sie sollte besser nicht bei uns wohnen‹, dachte sie bei sich. Besser wäre, sie würde überhaupt nicht leben, dachte sie.

      Das Pferd schüttelte sich, weil die Mücken es von allen Seiten angriffen, und stürzte den Bottich um, das Wasser ergoss sich immer weiter, endlos. Selija kam es so vor, als würde sich auch ihr Leben genauso ergießen, mir nichts, dir nichts im Boden versickern, während das Pferd dem Bottich einen Tritt versetzte und ihn in unbestimmte Weiten davonfliegen ließ.

      Glesum klammerte sich fest an den Wagen, die Männer machten einen Bogen um sie, schubsten sie nicht herum. Sie beruhigte sich ein wenig, alle kamen zur Ruhe, und allmählich kehrte das Leben in seine gewohnten Bahnen zurück.

      3. Blut

      Selija bog die Finger um, sie zählte die Tage. Es waren wirklich zu viele, das Blut der Menstruation zeigte sich nicht, Selija begriff, dass geschehen war, was nicht hätte passieren dürfen. Sie hatte schon einen Sohn von Gondas, Bentis, über zehn Winter alt; und wenn die Schneeschmelze käme, wenn Tag und Nacht gleich lang wären, würde er erwachsen genug sein, um als Krieger und einer der Stammesführer in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

      Selijas Sohn Bentis kam im ersten Winter zur Welt, kaum dass sie zu Gondas gezogen war. Bentis war ihr ganzes Leben, mehr Leben hatte sie nicht. Jetzt war sie noch einmal schwanger, das Blut zeigte sich nicht, obwohl Selija es herbeizurufen versuchte. Die Tage vergingen, die Abende jagten die Morgen, Selija musste sich beeilen, denn wenn das Kind sich zu bewegen begann, war es zu spät, es herauszuholen.

      Selija klopfte an, eine alte Frau, die mit einem Bein voller vernarbter Wolfsbisse humpelte, das wohl noch immer schmerzte, obwohl es längst verheilt war, machte die Tür auf. Die beiden Frauen gingen hinein, die Hütte war klein, für einen Menschen reichte der Platz aus, zumal für ein altes Weib mit Wolfsbissen an einem Bein.

      An den Wänden hingen überall Kräuter zum Trocknen, es roch streng nach Wundsalben, die die Alte selbst gemischt hatte. Drinnen bekam man kaum Luft, der stickige Dunst getrockneter Pflanzen und kochenden Schweinefetts, vermischt mit dem von Blättern, drang in Selijas Herz. Ihr wurde speiübel, der Boden unter ihr geriet ins Wanken, drehte sich, die Pflanzen erwachten zu neuem Leben, die vertrockneten Blüten öffneten sich, die Zweige streckten sich in die Länge und wanden sich um Selijas Beine.

      Als sie erwachte, lag sie auf dem schmutzigen Lehmboden, mit einem abgetragenen Pelz zugedeckt. Die Alte hielt ihr etwas scharf Riechendes vors Gesicht, Selija drehte den Kopf weg, damit es nicht so in den Augen brannte. Da könnte sie ja blind werden! Diese Alte mit den Wolfsbissen am Bein war zu allem fähig. Sie konnte mitten im Sommer Wasser zu Eis gefrieren lassen, indem sie ihm Kräuter beigab. Sie wusste, wie man Leichname so präparierte, dass sie bis zum Begräbnis frisch blieben. Sie heilte die Wunden der Männer, strich sie mit allem möglichen ekelhaften Zeug ein, sodass sogar gestandene Männer sich übergaben, doch die Wunden verheilten. Sie verband gebrochene Beine und hieß die Patienten, dreißig Nächte liegenzubleiben, manchmal auch zweimal dreißig, dann konnte man wieder gehen, seine Arbeit verrichten, als wäre nichts gewesen. Sie linderte Husten und Fieber, verwandelte Schmerz in Ruhe, erweckte Tote zum Leben, machte Lebende tot.

      Ihr Bein mit den Wolfsbissen hatte sie selbst geheilt, nachdem die Kinder sie mit vereinten Kräften nahezu ohne einen Hauch von Leben aus dem Wald getragen hatten, ihr Blut war schon herausgeflossen; wieder zu Hause, sagte sie, mit welcher Salbe die Kinder das Bein einstreichen sollten, das taten sie immer wieder, mit sehr viel Salbe, sie hatte es ihnen so befohlen, sie strichen sie immer weiter ein und würgten dabei wegen des Gestanks und ob des Anblicks der herunterhängenden Fleischfetzen. Dann hieß sie sie noch, die Beine mit Leinenlumpen zu verbinden, sie hatte welche bereitgelegt, aber nicht gedacht, dass sie für sie selbst wären – sie richtete alles für andere, aber siehe da, jetzt brauchte sie es selbst. Die Kinder verbanden das Bein, die Frau schlief ein, die Kinder gingen nach Hause und vergaßen das Ganze. Die Wölfe griffen oft an, bissen die alten Frauen, wenn sie sich zu weit von zuhause entfernten. Wenn sie nicht starben, versuchten sie sich auf alle möglichen Arten zu heilen, aber das gelang ihnen nur sehr selten, meist kamen sie zur Göttermutter und fielen dem Vergessen anheim. Die Kinder hatten nur selten Mitleid mit den alten Frauen, die Kinder hatten das Leben lieber als den Tod.

      Auch diese Alte vergaßen die Kinder, doch eines Tages erinnerte sich eines von ihnen an sie und schaute bei ihr vorbei, sie war putzmunter, nur noch älter als zuvor, und zog das Bein nach. Sie humpelte erneut durch die Wälder und über die Wiesen, sammelte Pflanzen, denn wer sollte das an ihrer Stelle für sie tun?

      Selija weinte, sie wusste selbst nicht, warum. Man erzählte sich im Dorf, in der Hütte der Alten würden alle weinen. Die einen um die Toten, die anderen um die Lebenden, denn aller Wunden seien gleich, man sollte sie nicht vergleichen.

      Die Frau streichelte Selijas Kopf, und alles kam zur Ruhe, der Schmerz verschwand, die Angst war weg, die Übelkeit, selbst sie war wie verflogen.

      »Wozu bist du hergekommen, Selija?«, fragte die Frau. »Deinem Kind geht es gut und auch dir, du kannst ruhig nach Hause gehen, du brauchst nichts, du hast alles.«

      »Ich habe alles«, pflichtete Selija ihr bei.

      »Aber du bist hergekommen, als würde es dir an etwas mangeln«, sagte die Frau.

      Selija sah ein, dass die Frau alles wusste. Sie wusste, dass sie das Kind nicht brauchte. Selija ärgerte, dass sie ihr nicht einfach von diesem Gebräu gab und sie wegschickte.

      »Selija, du wirst die Göttermutter erzürnen. Tu das nicht, Selija.«

      Selija


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