Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle
Читать онлайн книгу.Experiment und dem diskursiven Anliegen.
2.4Zum Utopiebegriff der Utopia
Wenngleich der Abschnitt zur Religion der Utopier die Struktur des Gedankenexperiments hinreichend deutlich macht, so ist damit eine letzte Frage noch nicht geklärt. Das abschließende Kapitel wird deshalb versuchen, zentrale Aspekte und Konsequenzen für ein Utopieverständnis abzuleiten, wie es sich allein aus Morus’ Prototyp erschließt. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass dieser Bedeutungshorizont der einzig mögliche ist, aber es scheint doch von beträchtlichem Interesse, was „Utopie“ im Sinne ihres Namensgebers meint, oder anders formuliert: was sich aus der Schrift hierzu gerade nicht herleiten lässt.
Die erste Frage richtet sich an ein gängiges Problem üblicher Utopiedefinitionen. Die Rede ist von der verbreiteten Tendenz, die Utopie im Kern als eine Idealstaatsschilderung des Autors zu kennzeichnen. In diesem Sinn ist Morus’ Utopia kein Idealstaat. Bei der dort vorherrschenden Religion handelt es sich, wie gezeigt, um einen rein vernunftbegründeten Glauben. Der heidnische Staat bleibt unvereinbar mit der christlichen Grundüberzeugung des Autors. Das zweite Missverständnis besteht in der Fehldeutung des utopischen Kriegswesens als Muster vorbildlicher, ja imperialistischer Machtpolitik.91 In Wahrheit intendiert das Kapitel schlicht das Gegenteil: Es ist eine Satire auf geheuchelte Friedensbekenntnisse, ein bissig-ironischer Kommentar zu einer tragenden Säule zeitgenössischer Machtpolitik: dem gewerbsmäßigen Söldnerwesen, und eine vernichtende Kritik verbreiteter Kriegspraktiken, wie sie Morus unter den christlichen Völkern und Fürsten beinahe täglich um sich herum beobachten konnte. Die dritte große Missdeutung liegt darin, Morus als den Propheten des modernen Kommunismus, als ersten großen Kritiker kapitalistischer Ausbeutung und seine Utopia als erste vorwissenschaftliche Theorie sozialistischen Gemeineigentums zu interpretieren.92 Auch hier ist Morus’ Position eindeutig: In der erwähnten Spätschrift hat Morus nicht nur kommunistischen Gemeinbesitz strikt abgelehnt, sondern überdies legitim erworbenen Reichtum auch mehrfach verteidigt.93 Ausgerechnet die Grundlage der gesamten sozioökonomischen Ordnung Utopias wird demnach von ihrem Verfasser als verallgemeinerungsfähiges staatspolitisches Prinzip nicht geteilt.
Das heißt freilich nicht, Morus’ Schrift ist eine Art Dystopie, ein abschreckend gemeintes Beispiel, das Morus seinen Zeitgenossen warnend vor Augen halten will. Der Text ist auch keine großangelegte Satire auf die Vernunft. Morus’ Ironie hat nicht zu bedeuten, man müsse nur alle Aussagen ins Gegenteil verkehren, um sodann den wahren Sinn zu erhalten. Dann nämlich müsste man konsequenterweise auch unterstellen, Morus befürwortet Preistreiberei, Ämterkauf, Wucher und das Elend weiter Bevölkerungsschichten. Es ist schlechterdings unmöglich, den zuweilen vorbildhaften Charakter, vor allem aber die kritische Intention der Schrift bei der Bewertung zu übergehen. Man darf getrost unterstellen, dass sich Morus in vielen Dingen des Staates, der Gesellschaft, gar der Religion, ein Denken und Handeln wünscht, das mehr von vernünftigen und nützlichen Überlegungen und weniger von irrationaler Geltungssucht und ehrgeizigem Egoismus geleitet wird. Die utilitaristische Rationalität, das insistierende Fragen nach dem Nutzen für das Gemeinwesen, dient Morus stets als oberste Leitlinie seiner kritischen Analyse der Gegenwart. So gesehen entspricht letztlich weder die einseitige Interpretation als geistreicher Witz noch die entgegengesetzte Deutung als idealstaatliche Schilderung dem Charakter der Utopia.94
Der genannte Streit lässt sich nun aber – mit Blick auf seine Relevanz für den Utopiebegriff – auf einer neutralen Ebene überspringen: Der Idealstaat ist nur das Thema, die Idee der Erzählung, nicht aber der Gehalt der Utopia selbst. Die Schrift entwirft gewiss einen Maßstab, nämlich das fiktive Bild einer durch und durch rationalen Gesellschaftsordnung. Der Entwurf selbst ist aber nicht der wahre Maßstab des Morus. Die simple Bewertung nach Gut oder Böse, nach wünschenswert oder nicht, ist für die Utopia sogar in den seltensten Fällen das letztentscheidende Kriterium. Für den Utopiebegriff der Utopia hat das zur Folge, dass die Frage nach Wunsch- oder Furchtbild überhaupt nicht die zentrale Kategorie ist. Ob ein utopischer Entwurf als absolutes Ideal des Verfassers zu gelten hat oder nicht, das muss sich stets am jeweiligen Einzelfall erweisen. Für einen an Morus angelehnten Utopiebegriff wird man deshalb festhalten müssen: Wichtiger ist der Utopie zunächst, was sie nicht will. Die Kritik ist zentraler und dem Wesen der Utopie näher als die vermeintlich erträumte Wunschwelt.
Auch die zweite Diskussion konzentriert sich auf eine gängige Charakterisierung von Utopie. Fast immer wird unterstellt, die Utopie sei vom Verfasser als Vorbild zur praktischen Umsetzung intendiert; der Glaube an ihre Realisierbarkeit, wenigstens aber der Wunsch nach Verwirklichung sei gerade das, was den Autor zum Utopisten macht.95 Auch in diesem Punkt fällt die Diagnose bei Morus gegenteilig aus. Die Antwort ergibt sich im Grunde schon aus dem Vorhergesagten: Wo kein Ideal geschildert wird, erübrigt sich der Verwirklichungswille fast von selbst. Gleichwohl beinhaltet die Utopia mancherlei bedenkenswerte und praktische Vorschläge. An einigen Stellen kommt sie dem Charakter einer Reformschrift sogar verdächtig nahe. Was die Realisierungsdimension des Gesamtentwurfs betrifft, so ist die Antwort der Schrift allerdings eindeutig: Ein fast untrügliches Indiz ist die Tatsache, dass Morus ausgerechnet Raphael die Beschreibung des Gemeinwesens überlässt, denn dieser hatte sich in der vorausgehenden Auseinandersetzung gerade für den Rückzug des Philosophen aus der Politik ausgesprochen. Das Utopische steht somit ausdrücklich nicht auf Seiten unmittelbarer Handlungspraxis, sehr wohl aber ist es mit der Aufforderung verbunden, die bestehenden Einrichtungen auf den Prüfstand zu stellen. Der Geltungsanspruch von Morus’ Utopie versteht sich nicht als Vorlage zur innerweltlichen Beseitigung aller Missstände; die Utopia formuliert kein politisches Aktionsprogramm. Vielmehr ist sie als geistiger Entwurf konzipiert, der sich ganz bewusst auf die Beförderung des politischen Diskurses beschränkt. Gerade diese Konstruktion ist letztlich aber, was die Utopia zur Utopie im ursprünglichen Wortsinn macht: Sie ist der voraussetzungsfreie Entwurf einer Gesellschaft ohne Vermittlungsinstanz, das heißt ohne eine Realisierungsdimension aufzuzeigen und ohne diese aufzeigen zu wollen.
Dies vorausgesetzt, lassen sich abschließend nun für die Utopia anhand der vier Ebenen – Form, Inhalt, Intention und Funktion – zentrale Charakteristika festhalten, die zugleich als Orientierungsrahmen für den nachstehenden Überblick dienen können. (1.) Formal betrachtet ist die Utopia konzipiert als eine kontrafaktische Fiktion, als universelle Beschreibung eines imaginären Gemeinwesens, das in eine literarischnarrative Rahmenhandlung gekleidet ist. Sie verknüpft dabei zahlreiche literarische Formtypen und Stilelemente wie die politische Reformschrift mit der Reiseerzählung, den philosophischen Traktat mit der Satire, die Ironie mit der Dialogstruktur. (2.) Auf inhaltlicher Ebene lassen sich dem Entwurf als zentrale Strukturprinzipien entnehmen: Isolation, Statik, soziale Harmonie und Gemeineigentum, Kollektivismus, Rationalität und Nützlichkeitsdenken. Die Elemente repräsentieren freilich nicht den Forderungskatalog des Autors, sondern verdichten sich lediglich zum materialen Bild seiner Utopie. Gleichwohl können diese Merkmale als eine Art Abfrageraster bei der Analyse späterer Utopieentwürfe dienen. (3.) Morus’ Intention verbindet schließlich Sozialkritik mit dem Anliegen, einen Anstoß zur Diskussion über die Grundlagen des staatlichen Gemeinwesens zu leisten und qualifiziert sich damit zugleich als normatives Politikanliegen. (4.) Methodisch umgesetzt ist dieses Vorhaben auf dem Wege eines gedankenexperimentellen Erkundens der Vernunft. Daraus resultiert funktional betrachtet eine prinzipielle Relativierung des Bestehenden, weil die existente Wirklichkeit zu einer möglichen unter vielen herabgestuft wird. Diese Funktion deckt sich, zumindest in ihrem Ursprungskontext, auch vollkommen mit der intendierten Wirkung. Darüber hinaus – und das lag nicht mehr in Morus’ Hand – hätte die Utopia in kaum größerem Maße Wirkung entfalten können, als mit der Begründung einer neuzeitlichen Denktradition, die diese Motivation und Funktion in vielfacher Weise weiter trägt.
Von den Besonderheiten der Utopia, die im zurückliegenden Kapitel beschrieben worden sind, müssen aber zumindest zwei Elemente als derart strukturbildend gelten, dass an ihnen keine Begriffsbestimmung vorbei kommt, ohne in Widerspruch mit Morus’ Urtypus zu geraten: zum einen das soziopolitische Gegenbild, also die Notwendigkeit einer ausgemalten gesellschaftlichen Alternative; zum anderen die kritische Intention. Und von hier aus, so die Vermutung, gewinnen letztlich alle Utopien ein zentrales, sie verbindendes Moment.