Empirische Sozialforschung. Günter Endruweit
Читать онлайн книгу.einen Überblick über allgemeine Theorien bieten oder herrschende Richtungen ermitteln will.
Für eine Definition des Wissenschaftsbegriffs bietet sich gerade in den Sozialwissenschaften ein dritter Ansatz an: die Ermittlung der sozialen Funktion, des wirklichen Arbeitsbereichs also, oder der sozialen Rolle von Wissenschaft, d. h. der Erwartungen, die in der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft gehegt werden. Einwandfrei wäre eine solche Begriffsbestimmung natürlich nur dann, wenn man ihren Inhalt mit empirischen Methoden feststellen würde. Das ist in hinreichendem Umfang bisher nicht gemacht worden und auch hier nicht zu leisten. Deshalb müssen wir uns mit einem Substitut bescheiden.
Dieser Empirieersatz läge möglicherweise in einem Vergleich, bei dem wir diejenigen Charakteristika, die bisher anerkannte Wissenschaften auszeichnen, den Merkmalen gegenüberstellen, welche Bereiche markieren, die sich nicht als Wissenschaften etablieren konnten. Aus den festgestellten Unterschieden könnte man dann – mit den dabei üblichen Unsicherheitsfaktoren – auf die sozial konstitutiven Kriterien für Wissenschaft schließen. Dieses Verfahren zeigt deutlich seine Zeitbedingtheit, die aber Folge der sozialen Natur dieses Wissenschaftsbegriffs ist.
Wenn man nun untersucht, warum Physik und Geschichte seit Langem, Psychologie und Soziologie seit relativ Kurzem als Wissenschaften allgemein anerkannt sind, während Astrologie und Chirologie keinerlei erkennbare Chance haben, aus dem Stadium des Vorwissenschaftlichen herauszutreten, dann stellt man drei offensichtlich entscheidende Kriterien fest, die vermutlich auch maßgebend für die Anerkennung neuer Wissenschaften sind: Man erwartet eine eigene Theorie oder eine eigene Methode oder beides, und man stellt an das Ergebnis dieser beiden Elemente noch besondere Ansprüche, nämlich dass sie zu mehr Wissen führen. Daraus gewinnen wir als Begriffsbestimmung:
Definition »Wissenschaft«
Wissenschaft ist der Bereich menschlicher Tätigkeit, in dem mit dem Ziel gearbeitet wird, Wissen zu produzieren (Forschung) und zu systematisieren (Theorie).4
In dieser Definition gibt es keinen Hinweis auf die vielen Unterschiede zwischen den Wissenschaften. Das ist auch nicht nötig. Denn eine Definition (von lat. finis = Ende, Grenze) ist eine Abgrenzung ihres Gegenstandes von allen anderen Gegenständen, die nicht unter diesen Begriff fallen sollen. Hier ist also Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft abzugrenzen.
Das haben wir an dieser Stelle mit einer aristotelischen Definition versucht, einer von den zahlreichen Arten von Definitionen. Diese Definitionstechnik beginnt mit der Nennung eines Oberbegriffs (genus proximum; hier: Bereich menschlicher Tätigkeit), unter den auch andere Unterbegriffe, z. B. Handwerk, Medizin und Sozialarbeit, fallen. Dann werden die besonderen Merkmale des zu definierenden Begriffs angegeben (differentia specifica; hier: Produktion und Systematisierung von Wissen), die nur für die Wissenschaft zutreffen, nicht aber für die anderen Bereiche menschlicher Tätigkeit. Das schließt nicht aus, dass auch im Handwerk, in der Medizin oder bei der Sozialarbeit hin und wieder Wissen produziert oder systematisiert wird; viele Gelegenheitsentdeckungen sind ein Beispiel dafür – aber eben auch dafür, dass sie nur ein zufälliges Nebenprodukt einer an sich auf anderes gerichteten Tätigkeit waren. Ebenso wird durch die Definition nicht ausgeschlossen, dass auch Wissenschaftler neben forschen und theoretisieren noch etwas anderes tun, z. B. lehren5; aber das ist dann bei ihnen ein Nebenprodukt.
In unserer Wissenschaftsdefinition sind drei Elemente besonders problematisch. Sie sollen in den nächsten Abschnitten näher untersucht werden.
1.1.1 | Wissen |
Stellt man sich auf Grund unserer Wissenschaftsdefinition die wissenschaftlichen Einrichtungen als Unternehmen mit Produktionsbetrieben und Lagerhallen vor, dann ist Wissen das Produkt oder Gut, das dort hergestellt und bereitgehalten wird. Unter Wissen soll verstanden werden:
Definition »Wissen«
Wissen ist ein menschlicher Bewusstseinszustand, in dem Aussagen über Gegenstände als sachlich begründet und intersubjektiv begründbar angesehen werden.
Mit anderen Bewusstseinszuständen – wie Meinen, Glauben, Annehmen, Vermuten – hat Wissen gemeinsam, dass es Aussagen über Gegenstände macht. Das können Gegenstände aller Art sein: körperliche Gegenstände, wie etwa Dieselmotoren, oder nur als gedankliches Konstrukt existierende, wie die Rolle eines Vereinsvorsitzenden; gegenwärtige Gegenstände, wie die politischen Konflikte in der Schweiz, vergangene Gegenstände, wie die Verhaltensmuster des aztekischen Adels, und zukünftige Gegenstände, wie die Zahl der Eheschließungen am Ende des Jahrhunderts. Prinzipiell unterscheidet sich die Wissenschaft hier nicht von den anderen Bewusstseinszuständen; ob nicht aber doch einzelne, jedoch nicht prinzipielle Einschränkungen nötig oder nützlich erscheinen, wird im Kapitel 1.1.2 erörtert.
Ebenso stimmen die Aussagen der Wissenschaft über Gegenstände mit den Aussagen überein, die als Meinung, Glauben usw. produziert werden, wenn wir die sprachliche Form der Aussage betrachten. Als Aussagen über einen Gegenstand wollen wir alle Sätze ansehen, die einen Gegenstand im eben skizzierten Sinne durch Angabe von Eigenschaften oder Verhaltensweisen charakterisieren, also einen Aussagesatz. Eine der schlichtesten Aussagen ist Thomas Hobbes’ Annahme über die Grundlage aller zwischenmenschlichen Konflikte und mancher sozialwissenschaftlicher Theorien darüber: »Homo homini lupus« (Der Mensch verhält sich gegenüber dem Menschen wie ein Wolf).6 Komplizierter und für die Wissenschaft wertvoller sind Wenn-dann- und Je-desto-Aussagen. In den Abschnitten über Theorien und Hypothesen wird das noch eingehender behandelt.
Unterschiede zwischen Wissen und anderen Bewusstseinszuständen können also, sofern sie grundsätzlich sein sollen, nur in ihrer Begründetheit und Begründbarkeit liegen. Die Besonderheiten des Wissens liegen dabei in Folgendem:
Sachlich begründet ist ein Bewusstseinszustand, wenn die Aussagen über den Gegenstand aus der Sache kommen, also aus dem Gegenstand. Hier besteht die Verbindung zu dem Schlagwort von der wissenschaftlichen Objektivität: Der Gegenstand ist das Objekt, und nur aus diesem, nicht etwa aus dem Forscher, sollen die Aussagen über das Objekt bzw. über den Gegenstand kommen, wenn sie objektiv sein sollen. Wissen kommt nur aus der Erforschung des Gegenstandes, nicht aus dem Reden über den Gegenstand. Das wissenschaftstheoretische Problem besteht darin, welche sachliche Begründung einer entgegenstehenden, ebenfalls sachlichen Begründung die Existenzberechtigung nehmen kann. Denn leider ist es bei der Schwierigkeit wissenschaftlicher Probleme nicht so, dass von zwei Begründungen die eine stets »unsachlich« ist; vielmehr geht es meistens darum, dass über die jeweilige Begründungskraft von Begründungen zu entscheiden ist, denen man ausnahmslos die Herkunft aus der Sache nicht absprechen kann. Diese Entscheidung ist eines der Hauptprobleme wissenschaftstheoretischer Überlegungen. So kann es beispielsweise sein, dass eine Untersuchung die Ursache A für ein Phänomen herausfindet, eine andere die Ursache B. Davon muss nicht eine notwendig falsch sein. Vielmehr könnte es sein, dass A unter bestimmten Randbedingungen die Ursache ist, B unter anderen Randbedingungen.
Daraus folgt, dass Wissen auch intersubjektiv begründbar sein muss. Wäre es das nicht, gäbe es sachliche Begründetheit bestenfalls im subjektiven Bereich des einzelnen Produzenten von Wissen. Schon bei der Mitteilung von Wissen im Kollegenkreis – und die Kommunikation von Wissen wird immer unumgänglicher, weil Universalgelehrte seit mehreren Jahrhunderten unmöglich sind – wäre man ohne intersubjektive Begründbarkeit doch wieder auf blinde Autoritätsgläubigkeit, Zugrundelegen unüberprüfbarer Annahmen usw. angewiesen. Die Wissenschaft hat sich erst dann so exponential entwickelt, als sachliche Begründetheit und intersubjektive Begründbarkeit ihre Maximen wurden. Insofern sind beide Gesichtspunkte aufeinander bezogen und in der Regel gemeinsam zu sehen.
Hier ist einer der Berührungspunkte zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik, genauer: zwischen dem wissenschaftstheoretischen Konzept von Wissen und dem wissenschaftsethischen Prinzip von Wahrheit. Wahrheit ist der höchste Wert in der Wertordnung der Wissenschaftler (deshalb ist das Abschreiben in Dissertationen disqualifizierend, nicht wegen der Verletzung irgendwelcher Zitierregeln). Ihre letzte Frage lautet immer: Ist es so, wie es unmittelbar scheint, oder ist es nach methodisch strenger Untersuchung