Die Beobachtung als Methode in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Volker Gehrau
Читать онлайн книгу.wurde. Vor allem ist zu erwarten, dass Personen, die wissen, dass sie beobachtet werden, eher akzeptierte und sozial erwünschte Verhaltensweisen ausführen und unerwünschte vermeiden werden. In diesem Punkt weist die Beobachtung Parallelen zur Befragung auf, weil auch bei dieser typischerweise eher gewünschte Angaben gemacht und unerwünschte vermieden werden. Beide Verfahren sind also von möglicher Reaktivität betroffen. Das zweite Problem der Beobachtung liegt in der Identifikation und Interpretation beobachteter Aspekte. Beides ist stark abhängig von denjenigen, die die Beobachtung durchführen. Hier ergeben sich Parallelen der Beobachtung zur Inhaltsanalyse, da es bei beiden nötig ist, denjenigen, die die Datenerhebung ausführen, klar zu machen, wann Aspekte auf welche Art festzuhalten sind und wann nicht. Dadurch ergeben sich bei beiden Verfahren Probleme der Reliabilität bzw. der Objektivität. Beim Verständnis der wissenschaftlichen Beobachtung ist es deshalb nötig, an bestimmten Stellen auch die wissenschaftliche Befragung und die wissenschaftliche Inhaltsanalyse zu betrachten.
Basisverfahren der Datenerhebung
Die „wissenschaftliche Beobachtung“ ist der Gegenstand der weiteren Darstellung und wird ab jetzt zur Vereinfachung als „Beobachtung“ bezeichnet. Sie ist das klassische Verfahren, um Verhalten und Reaktionen von Personen zu erfassen. Hierin ist sie beiden anderen Datenerhebungsverfahren deutlich überlegen. In Inhaltsanalysen lassen sich nur Handlungsergebnisse der Autoren bzw. Produzenten der Text erfassen. Zwar umfassen die Texte selbst auch Handlungen der dargestellten Akteure. Diese sind aber nur sehr eingeschränkt als Indikatoren für Alltagshandlungen brauchbar, da ihre Darstellung stark von den Aufbereitungsregeln der jeweiligen Textsorte geprägt ist. Deshalb sagt der Umgang von Ärzten mit Patienten in Krankenhausserien wahrscheinlich mehr über die Produktionslogik von Serien aus als über den Krankenhausalltag. Solange es sich bei zu untersuchenden Verhaltensweisen um außergewöhnliche und bewusst ausgeführte Handlungen handelt, lassen sich diese auch in Befragungen ermitteln, z.B. dem Vorgehen beim Kauf eines teuren Fahrrades. Wird das interessierende Verhalten aber im Alltag oft und unbewusst ausgeführt, wie z.B. das Grüßen anderer Personen, lassen sich diesbezüglich kaum brauchbare Informationen erfragen. Beobachtungen sind auch dann als Mittel der Datenerhebung angezeigt, wenn mit dem Untersuchungsobjekt nicht angemessen kommuniziert werden kann, z.B. weil es noch nicht reden kann (wie Kleinkinder) oder Forschende und Untersuchte keine gemeinsame Sprache sprechen. Beobachtungsstudien sind zwar aufwändig, liefern aber, wenn es um Verhalten und Reaktionen von Menschen geht, alltagsnahe und aussagekräftige Ergebnisse. Phänomene, die quasi im Inneren einer Person stattfinden, die sein Wissen, seine Gefühle, Vorstellungen und Gedanken betreffen, lassen sich hingegen in der Regel nicht direkt beobachten. Eine Ausnahme stellen z.B. starke Emotionen wie Ekel dar, die sich über die Mimik einer Person erfassen lassen.
Wegen ihrer Stärken im Bereich der Erfassung von Verhalten und Reaktionen von Personen wird die Beobachtung in den unterschiedlichen sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen bei Fragestellungen zum Alltagverhalten eingesetzt. Das betrifft in unterschiedlichen Fachdisziplinen unterschiedliche typische Anwendungsfelder der Beobachtung. Hier einige nicht systematisch ausgewählte Beispiele: In ethnologischen Studien wird beobachtet, wie sich das Alltagsleben in einfachen Gemeinschaften gestaltet oder wie sich Alltagspraxen in Subkulturen entwickeln und vollziehen. In der Soziologie wird beobachtet, wie der Alltag in Familien abläuft oder wie Alltagsgespräche stattfinden. Forschende in den Wirtschaftswissenschaften beobachten die Arbeitsweisen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso wie das Kaufverhalten von Konsumentinnen und Konsumenten. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft wird beobachtet, wie Kommunikatoren Medienangebote erstellen und das Publikum diese Medienangebote im Alltag nutzt. Aggressionsverhalten junger Erwachsener ist ebenso Gegenstand psychologischer Studien wie die Exploration eines Spielzimmers von Kleinkindern. In der Sportwissenschaft werden Sportlerinnen und Sportler beim Training und bei Wettkämpfen beobachtet. In Rahmen erziehungswissenschaftlicher Studien wird beobachtet, wie sich Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte im Unterricht verhalten oder Kleinkinder in Kitas untereinander interagieren. In der Politikwissenschaft wird das Verhalten von Politikern und Politikerinnen im Wahlkampf beobachtet oder diejenigen, die gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen, werden bei den dazu durchgeführten Handlungen beobachtend begleitet. In den Verkehrs- oder Geowissenschaften wird beobachtet, wie Personen Distanzen überbrücken und wie sie sich in bestimmten Verkehrssituationen verhalten. Selbst in medizinischen Studien wird beobachtet, wie die Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten erfolgt oder welche gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen Menschen mit bestimmten Krankheitsrisiken zeigen. Die Liste der Disziplinen ließe sich problemlos erweitern. So unterschiedlich die aufgeführten Beispiele auch sein mögen, ein Merkmal haben sie alle gemeinsam: Es handelt sich um relativ eindeutige Verhaltensweisen, die sich gut extern beobachten lassen, aber kaum über Befragungen zu erheben wären, weil die Befragten die zu untersuchenden Verhaltensweisen eher unbewusst und beiläufig ausführen und deshalb über diese in Befragungen nur ungenau Auskunft geben können. Man könnte diese Beispiele als das klassische Terrain der Beobachtung bezeichnen.
Mit der Verbreitung von Computern und dem Siegeszug von Internet, sozialen Netzwerken und mobiler Kommunikation hat sich schließlich ein neuer Typ von Beobachtungsstudien entwickelt: die Beobachtung von Verhaltensspuren, die bei der Nutzung von digitalen Endgeräten und Angeboten anfallen. Durch Erfassung und Aufbereitung solcher Verhaltensspuren lassen sich große Teile des heutigen Arbeits- und Alltagsverhaltens nachvollziehen und analysieren. Je nachdem, welche technischen und inhaltlichen Bereiche der Kommunikation und welche Akteure man dabei betrachtet, lassen sich relevante Informationen für unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und Fragestellungen generieren. Die Daten müssen dafür nicht mehr extra erhoben werden, da sie technisch sowieso anfallen. Sie müssen jedoch aufbereitet und analysiert werden, was gegebenenfalls auch einen erheblichen Aufwand mit sich bringen kann. Vordergründig mag diese Entwicklung in Richtung von Big-Data-Studien gehen. Das ist aber nicht zwangsläufig, da sich so auch typische qualitative und quantitative sozial- und verhaltenswissenschaftliche Studien mit Verhaltensspuren im Netz durchführen lassen.
Die umfassende Darstellung dieser Vielfalt an möglichen wissenschaftlichen Beobachtungsverfahren, ihrer methodischen Voraussetzungen und Implikationen ist Thema der folgenden Kapitel.
Literatur
Diekmann, Andreas (2010). Empirische Sozialforschung. Reinbek: Rowohlt.
Jahoda, Marie, Lazarsfeld, Paul F. & Zeisel, Hans (1933/1975). Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziologischer Versuch über die Wirkung langandauernder Arbeitslosigkeit. Leipzig: Hirzel / Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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