Mediensoziologie. Elke Wagner

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Mediensoziologie - Elke Wagner


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des Mediums. Generativität meint dabei einerseits, dass Medien Botschaften nicht einfach neutral übertragen, sondern Teil des Prozesses der Informationsvermittlung sind und die Botschaften auf spezifische Weise prägen. Medien sind [20]also keine neutralen Vermittler, sondern Prägeinstanzen, sie fügen ihren Botschaften etwas hinzu. Gleichzeitig heißt Generativität auch, dass soziale Veränderungen auf Medienwechsel zurückgeführt werden. Dahinter steht die These von der Veränderung sozialer Praktiken, wenn ein (neues) Medium zum Einsatz kommt. Der Literaturwissenschaftler und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan hat diese These insbesondere im Zusammenhang mit der Einführung des Buchdrucks diskutiert (s. a. Kap. II.1).

      image Übungsvorschlag:

      Versuchen Sie einmal, einen Tag lang auf die Nutzung von Medien zu verzichten. Benutzen Sie weder Mobiltelefon noch Computer, öffnen Sie keine Briefe, schreiben Sie keine E-Mails und SMS. Sie werden beobachten können, welchen Einfluss Medien auf unsere täglichen Alltagspraktiken haben (können). Auch andere haben sich schon dieser Entzugspraxis ausgesetzt. So verabschiedete sich der Journalist Christoph Koch für 58 Tage von seinem Mobiltelefon und dem Internet, um hautnah zu erfahren, wie es sich ohne neue Medien leben lässt und schrieb darüber einen Erfahrungsbericht (Koch 2010). Seine Reaktion auf den Wiedereinstieg ins Internet nach gut zwei Monaten: »Ich fühle mich wie ein Junkie, der nach langem Leiden, nach einem Cold-Turkey-Entzug mit Blut, Schweiß und Tränen endlich wieder zurück in die Arme seiner Droge flieht.« (Koch 2010, S. 5)

      Wir werden auf den folgenden Seiten immer wieder auf die beiden Thesen, die die Generativität des Mediums ausdrücken, zurückkommen. Jetzt soll es zunächst noch einmal um die Tradition gehen.

2.Harold A. Innis: Medientheorie der Kulturwissenschaft

      Worauf bezieht man sich, wenn man von der Medientheorie der Kulturwissenschaften spricht? Zunächst taucht hier das Center of Culture and Technology an der Universität von Toronto in Kanada auf. Die frühe Medientheorie trägt deshalb auch das Label Toronto School oder Kanadische Schule. Dort versammelte sich eine Gruppe von – zum Teil auch nicht aus Kanada stammenden – Kultur- und Sozialanthropologen, Ethnologen, Literaturwissenschaftlern, Philologen und Historikern: Eric A. Havelock war Visiting Professor [21]bei McLuhan und arbeitete außerdem an der Yale University. Der im amerikanischen Missouri geborene Walter Ong studierte bei McLuhan. Jack Goody war Engländer und lehrte in Cambridge.

      Eric A. Havelock gilt als ein wichtiger Vertreter der Toronto School. In seinem Werk Preface to Plato (1963) beschreibt er auf beeindruckende Weise, wie durch die Einführung der Schrift so etwas wie ein soziales Gedächtnis entsteht, weil Ereignisse und Vorkommnisse nun festgehalten – und gleichzeitig auch vergessen – werden können. Man ist von da an nicht mehr darauf angewiesen, dass sich jemand Ereignisse merkt und sich an sie erinnert oder dass sie nur durch mündliches Erzählen weitergegeben werden können. Den prominentesten Status der Kanadischen Schule haben sicherlich die Arbeiten von Marshall McLuhan. Seine These, dass das Medium die Botschaft sei (the Medium is the Message) verschaffte ihm ungeheure Popularität (siehe Kap. II.1). Deshalb werden die Arbeiten der Toronto School auch oftmals ihm allein zugerechnet. Zwar hat Marshall McLuhan mit seinen Werken The Gutenberg Galaxy und Understanding Media zwei große Werke vorgelegt, die sich mit dem Wandel von Gesellschaften durch den Einsatz von Medien befassen. Doch auch Jack Goody und Ian Watt trugen mit ihrer Studie Consequences of Literacy (1963) entscheidend dazu bei, eine Medientheorie zu etablieren. In ihrem Werk beschreiben sie, wie die Einführung der Schrift zur Ausbildung eines Verwaltungssystems im Ägypten der Frühzeit geführt hat.

      image Infobox:

       Center of Culture and Technology, University of Toronto:

Harold A. Innis (1951):The Bias of Communication
Eric A. Havelock (1963):Preface to Plato
Marshall McLuhan (1962):The Gutenberg Galaxy
Marshall McLuhan (1964):Understanding Media
Jack Goody & Ian Watt (1963):Consequences of Literacy

      Pionier der Medientheorie ist ohne Zweifel Harold A. Innis. Er war ein Wirtschaftshistoriker, der Politik, Sozialstruktur, Technik und die Wirkung von Medien zusammendachte. McLuhan, Goody und Watt haben mit ihren Beiträgen dazu beigetragen, Innis Werk in den 1960er- und 1970er-Jahren nachvollziehbar und bekannt zu machen. Medientheorie versteht sich seither auch als Zeitdiagnose, in deren Rahmen man Medienumbrüche und technische Entwicklungen als Taktgeber sozialer und kultureller Veränderungen ansieht. Ausgangspunkt für die Arbeiten von Harold A. Innis waren [22]seine wirtschaftshistorischen Forschungen über Eisenbahnnetze, Fischerei und Pelzhandel. Unter Medien verstand Innis insbesondere die materiellen Träger von Kommunikation wie Stein, Ton, Papyrus, Pergament und Papier oder Transport- und Schifffahrtswege. Er analysierte ihre formbildenden und verhaltenskonstituierenden Kräfte in Bezug auf gesellschaftliche Organisationsformen. So interessierte sich Innis etwa dafür, welchen Einfluss die Einführung veränderter Transportwege auf die Gesellschaft hatte. Die Übertragungswege von Kommunikationspraktiken stehen generell im Zentrum von Innis Arbeiten. Verändern sich diese, kommt es zu einem kulturellen Wandel. Dies analysiert Innis am Beispiel der Einführung der Schrift und des Buchdrucks.

      Mediale Prozesse sind für Harold A. Innis Übertragungsprozesse mit einer materialen Basis. Diese materiale Basis schreibt sich in die Form der Wissensübertragung ein und verändert sie. Auf diese Weise entstehen unterschiedliche Wissenskulturen, die jeweils vom materialen Träger der Kommunikation abhängig sind. Innis bezeichnet diesen Umstand auch als Bias of Communication – so lautet jedenfalls der Titel seines 1951 erstmals erschienenen bekannten Hauptwerks. Er formuliert folgende These: »Wir können wohl davon ausgehen, dass der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt.« (Innis 1997, S. 96) Seine medientheoretische Perspektive impliziert aber auch eine Technikkritik, die sich vordringlich gegen Mechanisierung richtete. Jeder technische Fortschritt ruft laut Innis auch destruktive Kräfte hervor, hier ein von ihm gewähltes Beispiel: »Die überwältigenden Zwänge, die von der Mechanisierung ausgehen und sich bei den Zeitungen und Zeitschriften bemerkbar machen, haben gewaltige Kommunikationsmonopole entstehen lassen. Ihre tiefe Verwurzelung bringt eine anhaltende, systematische und rücksichtslose Zerstörung jener Grundbausteine des Fortbestandes mit sich, die so unerlässlich für das kulturelle Leben sind.« (Innis 1997, S. 204) Mechanisierung von Kommunikation führt also gemäß Innis zu Machtmonopolen. Genaueres dazu im folgenden Abschnitt.

2.1Kritik der mechanisierten Kommunikation

      Mediale und materiale Bedingungen der Kommunikation erweisen sich aus Innis’ Perspektive als entscheidend für die Etablierung, Verankerung, Durchsetzung und Verbreitung von Wissen. Dabei interessiert sich Innis, wie bereits erwähnt, vor allen Dingen für den Wandel, der unter dem Einfluss der Schrift und des Buchdrucks entstanden ist. Er hält in seinen Schriften an der ursprünglichen Bedeutung von Oralität, also Mündlichkeit, für soziale [23]Beziehungen fest. Unmittelbare Präsenz und die Nähe mündlicher Kommunikation gelten ihm als authentischere, wirklichere Form der Informationsübertragung: »Das mündliche Gespräch setzt persönlichen Kontakt und die Berücksichtigung der Gefühle anderer voraus, und es steht in krassem Gegensatz zu der grausamen mechanisierten Kommunikation und den Tendenzen, die wir in der heutigen Welt am Werke sehen (…). Ich möchte für die mündliche Tradition Partei ergreifen, besonders wie sie sich in der griechischen Zivilisation offenbart hat, und für die Möglichkeit, ihren Geist ein Stück wiederzubeleben.« (Innis 1997, S. 182 f.) Innis beschreibt eine zunehmende »Eskalation« der Verschriftlichung, an deren Ende die Mechanik des Buchdrucks entsteht. Dieser Entwicklungsprozess beinhaltet nicht nur die Entstehung und Veränderung von Wissen, sondern auch von Machtverhältnissen. Innis beobachtet in der zunehmenden


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