Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland. Bernhard Schäfers

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Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland - Bernhard Schäfers


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Grundgesetz verankerte Staatsordnung gehört zum Typus des westlichen »demokratischen Verfassungsstaates«. Ohne hier auf die Frage einzugehen, ob mit der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 bereits ein Wiederanknüpfen an die nach dem Scheitern der Paulskirchen-Verfassung von1848/49 unterbrochene westeuropäisch-nordamerikanische Verfassungsgeschichte gegeben war, konnte in den Jahren 1948/49 von einem breiteren Grundkonsens für diesen Verfassungs- und Staatstypus ausgegangen werden als 1918/19.

      Bei allen an der Ausarbeitung des Grundgesetztes beteiligten Personen und Parteien – ausgenommen die beiden KPD-Mitglieder im Parlamentarischen Rat – bestand Konsens über folgende Eckpfeiler:

       Das neue Staats- und Gesellschaftssystem beruht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung und des Föderalismus.

       Die Sicherung der Freiheits- und Bürgerrechte hat Vorrang vor »Staatsinteressen«.

       Die Handlungsfähigkeit und zugleich Kontrolle der Exekutive ist zu gewährleisten.Plebiszite sind ausgeschlossen.

       Grundlegende Prinzipien des neuen Gesellschaftsvertrages dürfen nicht, auch nicht mit Zweidrittelmehrheit, abgeändert werden (Art. 79 Abs. 3 GG).

      Dass das Grundgesetz gleichwohl für den gesellschaftlichen Wandel offen ist, war von vornherein Konsens. Inzwischen sind rund 60 Änderungen vorgenommen worden, zuletzt relativ umfangreich im Zusammenhang mit dem deutschen Einigungsprozess. Carlo Schmid (1896–1979), einer der wichtigsten »Väter des Grundgesetztes« (es gab auch vier »Mütter«) und SPD-Parlamentarier, schrieb in seinen »Erinnerungen« (1979 : 373 f.): »Auch gegen die von vielen gewünschte Einführung so genannter sozialer Grundrechte, an denen die Weimarer Verfassung so reich gewesen ist, habe ich mich energisch gewehrt, waren sie doch nichts anderes als Programme oder Tautologien oder Kennzeichnungen der Zustände, die bei einem vernünftigen Umgang mit den klassischen Grundrechten aus den politischen Auseinandersetzungen hervorgehen sollten« (über weitere Prinzipien bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes vgl. Di Fabio 2011).

      Am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum Ersten Deutschen Bundestag statt. Die Wahlbeteiligung betrug 78,5 %. Zur Überraschung vieler lag der Stimmenanteil von CDU/CSU mit 31,0 % (139 von 399 Sitzen) fast zwei Prozent über dem der SPD (131 Sitze). Die FDP erhielt 11,9 % der Stimmen und 52 Sitze, die Deutsche Partei (DP) erhielt 4,2 % der Stimmen und 17 Sitze. Die KPD erzielt 5,7 % und 15 Sitze.

      Konrad Adenauer betrieb geschickt seine Kanzlerschaft und erreichte sie in einer Koalition mit FDP und DP (vgl. Adenauer 1965 : 223 ff.). Da es noch keine Fünf-Prozent-Sperrklausel auf Bundesebene gab, kamen sechs weitere Parteien ins Parlament. Mit Adenauer an der Spitze der neuen Regierung zeichnete sich bald das ab, was später Kanzlerdemokratie genannt wurde, gestützt auf Art. 65 GG (»Richtlinienkompetenz« des Bundeskanzlers).

      Die Restaurationsthese wurde schon im Herbst 1946 von Hans Werner Richter (1908–1993), Mitbegründer der für das intellektuelle Leben in der jungen Bundesrepublik so wichtigen Literatenvereinigung »Gruppe 47«, in der Zeitschrift DER RUF vertreten: nach Kriegsende sei nicht, wie doch zu erwarten war, eine Revolution über dieses Land hinweggegangen, sondern es habe »lediglich eine behördlich genehmigte Restauration stattgefunden«. Richter tat aber auch kund, dass ihm die »revolutionäre« Entwicklung in der SBZ ebenso wenig gefiel. Wie also hätte die Revolution aussehen können und welcher Handlungsspielraum bestand überhaupt?

      Man darf folgende Tatsachen nicht aus dem Blick verlieren, wenn über einen falschen oder zu restaurativen Neubeginn nach 1945 bzw. 1948/49 räsoniert wird. Auf der einen Seite waren es extreme Notlagen, Kälte- und Hungerkrisen, der Kalte Krieg und die durch die Entwicklung in der SBZ und den vormals deutschen Ostgebieten mit verursachte alte und neue Furcht vor einer Bolschewisierung bzw. Sowjetisierung, die für einen sozialistischen Neubeginn keine idealen Ausgangsvoraussetzungen boten. Auf der anderen Seite war der Nationalsozialismus trotz der irrigen Behauptung von der »Stunde Null« nicht einfach verschwunden, sondern in Personen und Institutionen, Gesinnung und Weltanschauung noch präsent (vgl. über »Die lange Stunde Null«: Braun et al. 2007).

      In der breiten Beteiligung aller Bevölkerungsschichten am Nationalsozialismus lag eine Ursache für die Zurückweisung einer Kollektivschuld. Über das Gewesene wurde auch deshalb der Mantel des Schweigens und Vergessens gebreitet, um nicht die familiäre, berufliche und nachbarschaftliche Gegenwart permanent mit Infragestellungen und Verdächtigungen zu belasten. Zudem gab es ja die offizielle Entnazifizierung und die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg. Das Übrige war Alltagswelt, Irrtum und Irreführung und nicht der »wahre« Nationalsozialismus, an den man geglaubt hatte. So verwundert nicht, dass sich die Aufarbeitung von Schuld und Vergehen bis in die Gegenwart hinzieht. Wegen der vielen Restitutionsansprüche (z. B. an konfiszierter »jüdischer Kunst«, an Bodenbesitz ehemals jüdischer Familien) und neuen Darstellungen von Betroffenen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern wird das Thema: »Wie war es möglich?« weiterhin präsent sein. Der jungen Generation kann so ein viel differenzierteres Bild der Naziherrschaft in allen ihren Bereichen vermittelt werden.

      Die Grundlagen des neuen Wirtschaftssystems und Gesellschaftsvertrages gewannen schnell an Überzeugung und Zustimmung. Viele Probleme blieben zunächst ungelöst, wie z. B. die Monopolfrage. Hier war Ludwig Erhard kein Motor. Erst im Jahr 1957 wurde ein »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« (Anti-Kartellgesetz) verabschiedet. Doch das Funktionieren der marktwirtschaftlichen Ordnung mit sich ständig erweiternden Konsummöglichkeiten, der soziale Wohnungsbau, der Lastenausgleich für Vertriebene und Flüchtlinge und die anhaltende Massenflucht aus der DDR (vor allem über die bis 1961 offene Grenze nach West-Berlin) trugen zur Legitimation der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung bei.

      Auch die »Modernisierung im Wiederaufbau« (vgl. Schildt/Sywottek 1993), die ja nicht nur den Wohnungs- und Städtebau und die Kunst betraf, sondern auch das Design für viele Gebrauchsgegenstände wie Auto und Plattenspieler, Telefon und Radio, trug dazu bei, ein modernes, in die Zukunft weisendes Lebensgefühl zu vermitteln und den Anschluss an die als vorbildlich angesehenen Entwicklungen in den USA zu schaffen.

      Werte sind die in einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft wirksamen »ethischen Imperative«, ihr verbindendes Element. Nicht nur in der desolaten Situation nach dem Zweiten Weltkrieg wurde versucht, sich einer gemeinsamen Wertbasis zu vergewissern:

      In ihrem Werk zur Sozialstruktur Europas betonen Mau und Verwiebe (2009), in welchem Ausmaß auch die Entwicklung der Europäischen Union auf der Gemeinsamkeit von gleichen Werten beruht (vgl. Kap.XII).

      Werte verweisen auf kulturelle, religiöse und soziale, rechtliche und ethische Leitbilder des Handelns. Über den Normbegriff hinaus sind die in einer Gesellschaft vorherrschenden Werte das Grundgerüst der Kultur und der Weltanschauung.

      Die Berufung auf die grundlegenden Werte der deutschen Kultur, auf Reformation und Humanismus, auf die deutsche Klassik und den Idealismus in Philosophie und Pädagogik, auf das Erbe des Christentums und die große deutsche Bildungstradition gehörte zu den moralischen Stützen der unmittelbaren Nachkriegszeit.

      Das Goethe-Jahr 1949 zum 200. Geburtstag des Dichters bot einen willkommenen Anlass für eine geistige Neubesinnung – aber auch zum Streit um das deutsche Erbe in nunmehr zwei deutschen Staaten, die in diesem Jahr, auch mit Anspruch auf das Erbe des »anderen, wahren Deutschland«, gegründet wurden (vgl. Glaser 1997 : 107 ff.: »Auf Goethe hoffend«). Die geteilte Nation und die weitgehend zusammengebrochene Gesellschaft fanden eine Stütze in den Werten der deutschen Kultur- und Bildungstradition. Das Wort von der deutschen Kulturnation bekam eine unerwartete Bedeutung und wurde zu einer Grundlage der Zusammengehörigkeit. Glaser (1997) hat diese Zeit anschaulich mit Beispielen aus allen Kulturbereichen beschrieben: Die Rückbesinnung auf das Erbe einerseits, das Nachholen und Einholen der durch den Nationalsozialismus verzögerten oder zerstörten Moderne in Musik und Literatur, Malerei und Theater, Architektur und Städtebau


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