Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

Читать онлайн книгу.

Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch


Скачать книгу
in philologisch-exegetische Tiefen vorzustoßen. Die neueren Ansätze werden in thematische Blöcke gebündelt, welche die Hauptströmungen abbilden. Dabei bin ich weder rein nationalen Einteilungen gefolgt noch habe ich die deutsche klassische Wissenssoziologie als eigentlichen Nucleus des Unternehmens hingestellt.1 Im Vordergrund stehen theoretische oder thematische Gemeinsamkeiten. Die gegenwärtigen theoretischen Ansätze bilden den zweiten Block (II). Hier werden verschiedene Linien ausgebreitet, deren Wirkung die heutige Wissenssoziologie prägt. Der dritte Teil schließlich bietet eine systematische Übersicht zu den Themen und Forschungsbereichen der Wissenssoziologie. Weil gerade in diesem Bereich die größte Lebendigkeit der Forschung zu verzeichnen ist, weise ich – vor meiner Zusammenfassung – am Schluss auf die wichtigsten jüngeren Entwicklungen hin.

      Das Wissen ist sicherlich der abstrakteste aller möglichen Gegenstände. Einem Buch über die Wissenssoziologie haftet deswegen unvermeidlich auch etwas von dieser Abstraktheit an. Eine der frühen Konkretionen des Abstrakten ist zweifellos die Religion, die für die Wissenssoziologie traditionell eine große Rolle spielte. Die Religion nimmt auch nach wie vor eine bedeutende Position in der Wissenssoziologie ein. Weil ich aber selbst ein Buch über die Religionssoziologie verfasst habe, in der die Wissenssoziologie einen wichtigen Platz einnimmt, wird die Behandlung des religiösen Wissens hier nur am Rande angesprochen. Interessierte Leserinnen und Leser möchte ich auf dieses Buch verweisen.2 Es kann auch nicht das Ziel dieses Buches sein, das Wissen, das gesellschaftlich relevant ist, auf enzyklopädische Weise umarmen zu wollen. Hier geht es vielmehr um die Begriffe, Konzepte und Modelle, mit denen wir soziologisch das Wissen in den Griff bekommen können. Denn die Beiträge der meisten Wissenssoziologen bestechen nicht nur durch ihr Material, [11]sondern in ihrer methodologischen Betrachtungsweise und ihren analytischen Begriffen und Theorien.

      In offener Selbstkritik bin ich mir bewusst, dass ich mit der Abfassung einer einführenden Übersicht selbst eine wissenssoziologisch interessante Handlung vollziehe: Ich trage zur Erzeugung eines Kanons von Wissen bei. Das bedeutet, dass ich selbst von der Bedeutung des Wissens ausgehe, das ich vermittle. In der Tat habe ich gerade als Sozialkonstruktivist keinen Zweifel daran, dass das in der akademischen Wissenssoziologie geschaffene und vermittelte Wissen für eben jene akademisch Interessierten Geltung besitzt, die sich über die Wissenssoziologie informieren wollen. Zwar arbeiten wir fortwährend an der Wirklichkeit, doch wird die Welt nicht jeden Tag neu erfunden. Wir leben in einer Welt, in der es schon Stühle, Autos, Universitäten – und eben auch die Wissenssoziologie gibt. Und was sich hinter der Letzteren verbirgt, ist Gegenstand dieses Buches.

      Die Annahme, dass sich hinter dem Buch ein einzelner Autor verbirgt, ist eine wohltuende Fiktion, an der wir gerne festhalten. Doch weben meist mehr als zwei fleißige Hände hinter dem Namen, der auf dem Titelblatt steht. Die Fertigstellung dieses Buches verdankt sich einmal mehr der Hilfe meiner Frau Barbara Goll, der ich gern noch mehr literarische Qualitäten geboten hätte. Delia und Urs waren mir wieder einmal gut gesonnen und haben mich meist zur rechten Zeit vom Schreiben abgehalten, um mir zu zeigen, wie lustig das Leben sein kann. Bernt Schnettler bin ich nicht nur für die mannigfaltigen und scharfsinnigen Anregungen dankbar, sondern auch für die massive Beihilfe zur Vorzeigbarkeit des Textes. Für Ihre Korrekturen, Anregungen und Arbeiten am Text bin ich auch Sonja Rothländer vom UVK, Nico Zerbian sowie dem genialischen Setzer Bernardo Fernández dankbar. Daneben erhielt ich zahlreiche Anregungen von meinen Studierenden an der Technischen Universität Berlin sowie an der Hochschule Sankt Gallen. Von Ilja Srubar habe ich Entscheidendes über Scheler und vor allem Schütz erfahren. Die gelebte Wissenssoziologie Ronald Hitzlers war ein Grund für diese Arbeit. Ein anderer war das Denken eines Menschen, der mir den Weg in und durch die Wissenssoziologie gewiesen hat: Thomas Luckmann.

      Berlin, im April 2014

      1 Die eine Vorgehensweise wird von McCarthy gewählt, die andere von Stark; vgl. E. Doyle McCarthy, Knowledge as Culture: the New Sociology of Knowledge, London 1996; Werner Stark, The Sociology of Knowledge. An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, London 1958

      2 Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin u. New York 1999

      [12][13]Einleitung

      Im Lexikon bedeutet Wissen so viel wie etwas »gelernt«, »erkannt«, »erfahren« oder »im Gedächtnis haben«. Wissen hängt etymologisch auch mit visere (besichtigen, besuchen, zu sehen wünschen) zusammen. Enthalten ist darin das altindische veda, das bedeutet, dass man etwas weiß oder kennt. Seit dem 16. Jahrhundert enthält der Begriff auch die Bedeutung von »durch Forschung und Erfahrung erworbene Erkenntnisse, geistige Erkenntnis«. Betrachtet man das Wortfeld, dann liegt der Begriff der Erkenntnis in der Nachbarschaft des Wissens. Im Deutschen verbindet sich damit die Differenz zwischen passivem Wissen, das man »hat«, und Erkenntnis, die man aktiv »machen« kann. (Allerdings kann Erkenntnis semantisch durchaus auch etwas sein, das als Einfluss äußerer Wirkungen erscheint, und auch Wissen kann »erworben« werden.) Im Vergleich der Sprachen ist die Nachbarschaft von Wissen und Erkennen bedeutsam, denn beide semantischen Aspekte sind im englischen knowledge vereint. Die romanischen Sprachen betonen z.B. als connaissance oder conoscenza die Kenntnisse, pflegen daneben noch die enge Nachbarschaft zum savoir oder zum sapere, in dem das Können mitschwingt. Angrenzend an das deutsche ›Wissen‹ finden wir Begriffe wie Erfahrung, Glauben, Meinung, Einbildung, Vorstellung, die andere Formen der geistigen Aktivität darstellen. Sie werden oft im Widerstreit zu Wissen angeführt, als andere »Medien« oder »Formen« des Wissens, das, wie manche meinen, in diesen Fällen dann als rational und explizit angesehen werden muss. Gefühle, Emotionen und andere psychische Zuständen stehen im weiträumigeren Umfeld des Begriffes.

      Die Philosophie erhebt einen altehrwürdigen Anspruch auf das Wissen. Wissen und Erkenntnis zählen zu ihren bedeutendsten Themen, die auf höchst unterschiedliche Art behandelt werden. Manche unterscheiden zwei zentrale Modelle: Nach dem ikonischen Modell ist Wissen ein adäquates Abbild (mentaler Art) eines Wissensobjektes; nach dem propositionalen (oder nominalistischen) Modell ist Wissen eine wahre Aussage. Die erste Erklärungslinie, für die Begriffe wie Wahrnehmung und Erinnerung prototypisch sind, reicht von den Stoikern bis zu Kant und dem Idealismus. Die zweite, für die die wissenschaftliche Proposition typisch ist, reicht von Aristoteles über Leibniz und weit darüber hinaus. Neben diese könnte man jedoch zahllose andere Erklärungen stellen: idealistische, sensualistische, materialistische etc. Theorien der Erkenntnis. Ihre Vielfalt verdankt sich der Bedeutung ihres Gegenstands. Man darf wohl sagen, dass die Erkenntnistheorie eine der tragenden Säulen der Philosophie ist.

      Vor dem Hintergrund der philosophischen Überlegungen wird die Besonderheit des wissenssoziologischen Zugangs deutlich. Die alte Erkenntnistheorie stellt sich Erkenntnis als einen Vorgang vor, der sich zwischen der wahrnehmenden, erfahrenden Person (bzw. dem Subjekt oder dessen Geist) und dem Erkenntnisgegenstand [14]abspielt. Erkenntnis also ist eine Art solitärer Prozess, der sich zwischen Erkennendem und Erkanntem vollzieht. Man kann das an einer Illustration veranschaulichen, die – wie weite Teile der Erkenntnistheorie – durchaus von der visuellen Metapher des Erkennens geprägt ist. Sehr allgemein gesprochen gibt es dabei zwei Richtungen der Erkenntnis: Sie besteht in einer Wahrnehmung eines Gegenstandes durch ein Subjekt oder in der Bezugnahme des Subjekts auf den Gegenstand: Unabhängig davon, ob man sich Erkenntnis als aktive Leistung des Subjekts vorstellt oder als passives Einwirken von Reizen auf das Subjekt, zeichnet sich das »erkenntnistheoretische« Modell doch vor allem durch die zweistellige Relation zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt aus:

      Abb. 1: Relation zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt

      Die wissenssoziologische Betrachtungsweise unterscheidet sich von dieser erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise grundlegend: Sie sieht die erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht. Deswegen könnte man auch von einer soziologischen Erkenntnistheorie reden. Man kann diese soziologische Wende der Erkenntnistheorie anhand der Kritik an Kant deutlich machen. Hinter Kants Frage, »Wie ist wahres Wissen möglich?«, verbirgt sich die genuin soziologische


Скачать книгу