Transkulturelle Kommunikation. Michèle Kaiser-Cooke
Читать онлайн книгу.wachsen: Wir können unser sprachliches Repertoire ein Leben lang erweitern. In diesem Sinne lassen sich die „Truncated Repertoires“ als ein Grundstock an sprachlichen Mitteln begreifen, auf dem wir aufbauen können.
Wir haben gesehen, dass Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz nicht gleichzusetzen sind – aber sie hängen zusammen: Sprachpraxis ist an Kommunikationssituationen gebunden. Und auch die Auseinandersetzung mit der Wirkung von sprachlichen Ausdrucksmitteln ist an einer Schnittstelle von Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz zu sehen. Dazu gehört der Umgang mit bestimmten grammatischen oder lexikalischen Formen, mit rhetorischen Figuren und sprachlichen Bildern. Sprachliche Elemente haben nicht nur eine Bedeutung (Denotation), sondern sie lösen auch bestimmte Vorstellungen aus, die mitgemeint sind (Konnotationen). Die Sprachwissenschaftlerin Kirsten Adamzik veranschaulicht das anhand eines Beispiels: Die Begriffe „Baby“, „Säugling“ oder „Wickelkind“ bezeichnen vielleicht jeweils dasselbe Kind, betrachten es aber aus unterschiedlichen Perspektiven: Baby bezieht sich vor allem auf das geringe Lebensalter, Säugling auf den Umstand, dass das Kind Muttermilch trinkt, und Wickelkind darauf, dass es gewickelt werden muss.
Stilmittel, sprachliche Bilder und Konnotationen können bewusst eingesetzt werden, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Das kann auch eine emotionale Wirkung sein. Nicht zuletzt darauf beruht die Macht der Sprache, die für Propaganda und Manipulation missbraucht werden kann, wurde – und wird.
Ein Sprachwissenschaftler, der sich damit intensiv auseinandergesetzt hat, ist Victor Klemperer: Er war in der Zwischenkriegszeit Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule Dresden. Unter dem NS-Regime verlor er seine Stelle, wurde als Jude verfolgt, konnte sich aber immer wieder verstecken und untertauchen (unter anderem im Chaos nach den Luftangriffen auf Dresden) und so in Deutschland überleben. In seinen Tagebüchern analysiert er die Sprachverwendung im Dritten Reich, die „Lingua Tertii Imperii“, kurz: LTI. Die Analyse wird ihm zur „Balancierstange“, die ihm hilft, durch die schrecklichen Zeiten zu kommen. Er beobachtet scharfsinnig, wie eine bestimmte Form der Sprachverwendung die öffentliche Meinung regelrecht vergiftet und dadurch die NS-Diktatur stützt:
Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? [D]er Nazismus ging in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden. […] Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. […] Die nazistische Sprache […] ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, […] in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel. (Klemperer 1975:25f)
Die Macht der Sprache zeigt sich darin, dass durch bestimmte Begriffe bestimmte Assoziationen ausgelöst und Deutungsrahmen aufgerufen werden. Dadurch können die Einstellungen von Menschen beeinflusst werden. Das kommt nicht nur in Diktaturen vor, sondern auch in der Demokratie. Es ist nicht auf die NS-Zeit beschränkt, sondern heute immer noch aktuell – und wird auch anhand von aktuellen Beispielen erforscht: Dies tun zum Beispiel der Sprachwissenschaftler George Lakoff und die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Das Phänomen, dass bestimmte sprachliche Elemente bestimmte Vorstellungen auslösen, nennen sie Framing.
Begriffe werden durch diese Vorstellungen bewusst „eingerahmt“, es wird ein Deutungsrahmen aufgerufen, in den Informationen eingeordnet werden. So macht es zum Beispiel einen Unterschied, ob von „Nichtraucherschutz“ und „guter Luft in Gasträumen“ gesprochen wird – oder von „militantem Rauchverbot“.
Assoziationen und Deutungsrahmen sind häufig mit Emotionen verknüpft. Dies wird in der Kommunikation bewusst genützt: In der Werbung wird typischerweise versucht, positive Emotionen oder Sehnsüchte zu wecken. Das Steuern von Deutungsrahmen ist aber eben auch ein Teil von Propaganda und Manipulation. In jüngerer Zeit wurde politisches Framing und das potentielle „Gift“, das darin stecken kann, unter anderem im Zusammenhang mit dem Migrations- und Fluchtdiskurs untersucht: Elisabeth Wehling bringt dafür die Beispiele „Flüchtlingskrise“, „Flüchtlingswelle“ oder gar „Flüchtlingstsunami“. Diese Begriffe lösen Konnotationen aus, die Angst machen – und zwar nicht Angst vor dem Krieg oder den Katastrophen, die die Flucht ausgelöst haben, sondern Angst vor den geflüchteten Menschen. Umgekehrt löst ein Begriff wie „Steueroase“ erfreuliche Vorstellungen von einem schönen, üppigen, grünen Ort aus – und nicht etwa die Vorstellung von Betrug an der Allgemeinheit.
Sprachliche Manipulation im Alltag und in unterschiedlichen Kommunikationssituationen zu durchschauen und ihr nicht auf den Leim zu gehen, ist eine Frage von Sprach- und Kommunikationskompetenz. Dazu gehört auch, „giftige“ Begriffe und Bilder zu erkennen und sie nicht unabsichtlich weiterzutragen.
Deutungsrahmen an sich sind weder gut noch schlecht, sie gehören zur Kommunikation dazu. Wir brauchen Deutungsrahmen, um uns in Aussagen und Texten zurechtzufinden. Kommunikationskompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang, zu verstehen, wie Deutungen konstruiert werden und welche Rolle sprachliche Mittel dabei spielen. Sensibilität für die Wirkung von Sprache zu entwickeln, ist schon ein erster Schritt hin zu professioneller Kommunikation.
Auf den Punkt gebracht
1 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz unterscheiden sich voneinander.
2 Bei Sprachkompetenz geht es um die Beherrschung von Sprachen (auf einem bestimmten Niveau), Kommunikationskompetenz bedeutet hingegen, Kommunikationssituationen in ihrer Mehrdimensionalität realistisch einschätzen zu können und das eigene kommunikative Verhalten auf die Situation auszurichten.
3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz hängen zusammen.
4 Sprachverwendung ist an konkrete Kommunikationssituationen geknüpft.
5 An der Schnittstelle von Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz geht es um die ästhetische und emotionale Wirkmacht von Sprache.
Zum Weiterdenken und Vertiefen
1 Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie eine Kommunikationssituation falsch eingeschätzt und deshalb jemanden irritiert haben oder selbst irritiert waren.a. Skizzieren Sie die Kommunikationssituation und überlegen Sie, welche Informationen über den Kontext Ihnen oder Ihren Kommunikationspartner*innen möglicherweise gefehlt haben. Erzählen Sie die Szene jemandem oder schreiben Sie sie auf.b. Konnten Sie das Missverständnis klären? Wenn ja, wie? Wenn nicht, was könnten Sie tun, wenn Ihnen etwas Ähnliches wieder passiert?
2 Lesen Sie bewusst einige Schlagzeilen oder Postings in seriösen Zeitungen, in Boulevardblättern und auf Social-Media-Plattformen: Überlegen Sie, welche Assoziationen bestimmte Begriffe oder Schlagzeilen bei Ihnen wecken und welche Deutungsrahmen sich auftun.a. Welche emotionalen Reaktionen merken Sie dabei an sich selbst?b. Versuchen Sie, die Stellen umzuformulieren, um andere Reaktionen auszulösen.
4 Professionelle Kommunikation: Was ist das?
Wir haben festgestellt, dass alle Menschen nicht nur kommunizieren können, sondern kommunizieren müssen.
Warum sollten wir dann Kommunikation studieren, erforschen oder analysieren? Wozu gibt es Kommunikationstheorien, wenn wir ohnehin alle die Praxis beherrschen?
Nun, viele wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit einer Praxis, die alle Menschen grundsätzlich „können“: Die Anatomie untersucht, wie der menschliche Körper strukturiert ist und wie er funktioniert. Die Musikwissenschaft versucht unter anderem, zu erklären, welche Funktion die Musik in der Gesellschaft erfüllt und wie Menschen Musik produzieren, wie wir