Ausweitung der Kontingenzzone. Christian Schuldt
Читать онлайн книгу.Erkenntnisse. Zugleich aber erschwert gerade diese theoretische Flughöhe die Zugänglichkeit, schließlich gleicht die Theorieanlage „eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende“, wie Luhmann selbst konstatierte (Luhmann, 1984, 14).
Die vorliegende Publikation will helfen, diese Rezeptionshindernisse zu überwinden – indem sie die konstruktiven Kräfte der abstrakten Theorie in den Mittelpunkt stellt. Das heißt vor allem: die Reflexion des Auch-anders-möglich-Seins, die schöpferische Kraft der Kontingenz. Denn der bewusste Fokus auf konkrete gesellschaftliche Veränderungsdynamiken erschließt zugleich künftige Möglichkeits- und Gestaltungsräume, legt die „possibilistischen“ Potenziale der nüchternen Theorie frei. Gerade inmitten eines historischen Umbruchs, der eine ganze Flut neuer Risiken und Unsicherheiten mit sich bringt, wird diese konstruktive Perspektive immer wichtiger.
Unter der Prämisse der Kontingenz versammelt dieses Buch Themen, die so divers sind wie die nächste Gesellschaft selbst. Das Spektrum reicht von Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Innovation bis zu Liebe, Kunst und Religion; von Politik, Geld und Gemeinwohl bis zu Jugend, Alter und Klimawandel. Hervorgegangen sind diese Perspektiven auch aus meiner Tätigkeit als Studienleiter und Autor für das Zukunftsinstitut (siehe die entsprechenden Verweise im Text).
Der rote Faden, der diese Vielfalt bündelt und zugleich eine neue Beobachtungsdimension eröffnet, besteht folglich in einer hybriden Perspektive: in der Kopplung der Systemtheorie an die konkreten Wandlungsdynamiken unserer Zeit. Und in der Frage: Was hält eine Gesellschaft, die heterogen vernetzt und damit auch zunehmend „exkludierend“ ist, überhaupt noch zusammen?
Der Untertitel des Buches ist dabei zugleich eine Reverenz an Niklas Luhmann, genauer: an seine Aufsatzsammlung „Beobachtungen der Moderne“. Im Vorwort schrieb Luhmann: „Der Titel ist bewusst zweideutig gefasst, denn es handelt sich um Beobachtungen der modernen Gesellschaft durch die moderne Gesellschaft.“ (Luhmann 1992, 8). Diese Ambivalenz prägt auch die „Beobachtungen der nächsten Gesellschaft“: Auch sie sind zugleich Selbstbeobachtungen der Netzwerkgesellschaft – die sich noch im Entstehen befindet. Eine systemtheoretische Perspektive, die diese selbstreferenziellen Schleifen miteinkalkuliert, kann dazu beitragen, dieser nächsten Gesellschaft Kontur zu geben.
Christian Schuldt
Hamburg, im Juli 2021
Es gibt nette, hilfsbereite Theorien und solche, die durch das Wahrscheinlichwerden des Unwahrscheinlichen fasziniert sind. Die erstgenannte Variante hat die Tradition für sich, die zweite drängt sich auf, sobald man explizit fragt, wie soziale Ordnung möglich ist. (Niklas Luhmann)
Systemtheorie: Soziale Komplexität verstehen
Um die konstruktiven Erkenntnispotenziale des systemtheoretischen Beobachtungsansatzes zu verdeutlichen, ist es wichtig, zunächst einmal ihre theoretischen Grundzüge zu umreißen. Im Folgenden werden deshalb in aller Kürze die wichtigsten systemtheoretischen Prämissen in Bezug auf gesellschaftliche Wandlungsdynamiken zusammengefasst, mit besonderem Augenmerk auf die vernetzte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
„Inseln geringerer Komplexität“
Wie ist soziale Ordnung möglich? Wie kann so etwas Unwahrscheinliches wie die Gesellschaft überhaupt entstehen? Die Antwort der Systemtheorie lautet: durch verschiedene Formen von Kommunikation, die sich voneinander abgrenzen und eigene Hoheitsgebiete bilden. Oberster Bezugspunkt systemtheoretischen Denkens ist dabei das Thema Komplexität: Soziale Systeme machen die unbestimmbare Komplexität der Welt „behandelbar“, indem sie eigenmächtig Komplexität reduzieren. Die Vermittlung zwischen der unbestimmten Weltkomplexität und der menschlichen Möglichkeit zur Komplexitätsverarbeitung macht soziale Systeme zu „Inseln geringerer Komplexität“ (Luhmann 1970, 116) im diffus-komplexen Weltmeer.
An der Grenze zwischen System und Umwelt herrscht also immer ein Komplexitätsgefälle: Die Umwelt ist stets komplexer als das System, und das System ist stets „geordneter“ als seine Umwelt. Um aber Komplexität reduzieren zu können, müssen Systeme zunächst selbst über Komplexität verfügen. Erst ein gewisses Maß an Eigenkomplexität erlaubt es ihnen, auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu reagieren und den eigenen Fortbestand dynamisch zu sichern – und je komplexer ein System ist, desto mehr Reaktionsmöglichkeiten hat es. Soziale Systeme verfügen damit über eine dynamische Stabilität.
Genese der Gesellschaft
Auf Basis dieser dynamischen Stabilität sozialer Systeme vollzieht sich die gesellschaftliche Evolution – denn „nur die Differenz von System und Umwelt ermöglicht Evolution“ (Luhmann 1997, 433). In diesem Prozess bilden sich Strukturen heraus, mit denen die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation wahrscheinlich gemacht wird. Auf Basis des Angepasstseins können dann immer radikalere Unangepasstheiten entstehen, Unwahrscheinliches kann immer schneller wahrscheinlich werden. Das Resultat ist „eine ungewöhnlich hohe, in der Lebenszeit der einzelnen Menschen sichtbar werdende Änderungsfrequenz in den Strukturen des Gesellschaftssystems“ (ebd., 495).
Alle evolutionären Errungenschaften gleichen sich deshalb darin, dass sie kombinatorische Möglichkeiten erhöhen, also höhere Komplexitätsgrade ermöglichen. Die vier Formen gesellschaftlicher Differenzierung, die die gesellschaftliche Evolution auf dieser Grundlage hervorgebracht hat, sind daher auch gestaffelt nach ihrer ansteigenden Komplexität:
•segmentäre Differenzierung (tribale/archaische Gesellschaft)
•stratifikatorische Differenzierung (antike/traditionelle Gesellschaft)
•funktionale Differenzierung (moderne Gesellschaft)
•vernetzte Differenzierung (Netzwerkgesellschaft)
Jede dieser Gesellschaftsformen ist direkt verbunden mit einem dominanten Verbreitungsmedium – Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer –, das jeweils einen kommunikativen „Sinnüberschuss“ produziert. Das heißt: Jede einzelne Kommunikation kann und muss verglichen werden mit den sozialen Phänomenen, die durch die mediale Verbreitung ebenfalls in den Blick kommen. Die Gesellschaft reagiert auf diesen medialen Sinnüberschuss mit Strukturformen, die die Verteilung der jeweiligen Kommunikationsmöglichkeiten akzeptabel machen, und mit Kulturformen, die bestimmte soziale Phänomene in der Differenz zu anderen definieren. „Gelöst“ werden kann das Problem des Sinnüberschusses also nur durch neue Orientierungsmuster und Kulturformen beziehungsweise Semantiken (siehe III. Reflexion, S. 79).
Gesellschaft 1.0 bis 4.0: Evolution der Verbreitungsmedien sowie der Struktur- und Kulturformen
Die verschiedenen Medienepochen verdrängen sich nicht, sondern überlagern sich. Auch im Kontext der Vernetzung muss die Gesellschaft also neue und andere Lösungen finden für alle Probleme, die vorige Gesellschaften bereits gelöst haben. Die Netzwerkgesellschaft lässt sich deshalb nicht verstehen ohne ein Verständnis für die Dynamik früherer Gesellschaften.
Die nächste Gesellschaft: Vernetzte Komplexität
Seitdem die Strukturform der funktionalen Differenzierung Mitte des 19. Jahrhunderts tonangebend wurde, ist die Gesellschaft nach Typen von Kommunikationen differenziert. Diese Kommunikationen werden von den einzelnen Funktions- oder Subsystemen der Gesellschaft geleitet: Subsysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion oder Kunst entscheiden in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet eigenmächtig, welche