Die kapitalistische Gesellschaft. Boike Rehbein

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Die kapitalistische Gesellschaft - Boike Rehbein


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2,3% BSP in Billionen USD 2011 Ca. 1,5 Ca. 3,4 Ca. 13 Ca. 94

      Tab. 1: Globaler Ressourcenverbrauch und Wachstum (Quellen: ourworldindata.org; Der Spiegel, 6.5.2019).

      Die Ausbeutung der Natur hat im Kapitalismus systematischen Charakter. Sie schließt die gesamte Gesellschaft und die gesamte Natur ein. Während die meisten früheren Gesellschaften auf Nachhaltigkeit gegründet waren, verwandelt der Kapitalismus zunehmend alle natürlichen Gegenstände in Waren, um durch deren Verkauf Gewinn zu erzielen. Dieser Prozess tendiert, wie wir alle wissen, dahin, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören.

      Ulrich BrandBrand, Ulrich und Markus WissenWissen, Markus haben gezeigt, inwiefern der Kapitalismus auf der Externalisierung der Ausbeutung von Mensch und Natur basiert.3 Während einerseits Natur als „Gratisproduktivkraft“ genutzt werde, müssten andererseits Wälder im globalen Süden das im Norden ausgeschiedene Kohlendioxid absorbieren, Müll aus dem Norden in den Süden transportiert werden und Menschen im Süden möglichst billig arbeiten.4 Die Autoren erläutern nicht nur, dass wir alle diese Ausbeutung mit unserer alltäglichen Lebensweise reproduzieren, sondern auch, dass wir möglicherweise bald an die Grenzen der Ausbeutbarkeit stoßen. Tatsächlich scheint innerhalb des kapitalistischen Systems, wie es heute funktioniert, keine Rettung der Natur möglich. Sie wird ausgebeutet, bis das letzte Sandkorn abtransportiert und verkauft wurde.

      In welchem Maße der Kapitalismus auf der kostenlosen Ausnutzung von Mensch und Natur beruht, hat besonders deutlich der Ökofeminismus gezeigt.5 Nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch die Reproduktion in der Familie und die sozialen Tätigkeiten wie Pflege werden vom Kapitalismus angeeignet, aber nicht bezahlt, anerkannt oder ersetzt. Ohne sie gäbe es keine kapitalistische Wirtschaft.

      Die Ausbeutung der Natur dient nicht der Gesellschaft oder den Menschen insgesamt, sie wird auch nicht vom Menschen „an sich“ betrieben. Sie dient der Herrschaft über Menschen. Meinen Sie, dass der Vorstand von Shell die Menschheit mit Öl versorgen will oder Kleenex Kahlschlag betreibt, weil Kosmetiktücher eine Errungenschaft sind, über die jeder Mensch verfügen sollte? Selbstverständlich nicht, es geht um Profit, um die Vermehrung von Geld. Wozu aber dient das Geld? Die Vorstände und Großaktionäre dieser Unternehmen brauchen das Geld nicht in erster Linie, um zu überleben oder um teure Konsumgüter zu kaufen. Derartige Mengen an Geld kann man gar nicht ausgeben. Vielmehr dient das Geld als Herrschaftsmittel, es sichert die soziale Position und die Herrschaft über andere Menschen, wie ich unten eingehend zeigen werde.

      2.8 Politische Legitimation

      Im frühen 17. Jahrhundert entbrannte in Europa der Dreißigjährige Krieg und in England ein Bürgerkrieg, an dem alle sozialen Schichten beteiligt waren. In der Folge wurde in England ein Parlament als Volksvertretung eingerichtet, zu dem allerdings nur ein kleiner, privilegierter Teil der Bevölkerung Zugang hatte. Die englische Revolution begrenzte zwar die Macht der Monarchie, war aber eigentlich keine bürgerliche Revolution. Das Parlament bestand aus erblichen Mitgliedern von Adel und Großbürgertum. Bis weit ins 20. Jahrhundert rekrutierten sich Regierung und hohe Beamte aus der Oberklasse. Letztlich handelte es sich um eine Demokratie der Kapitalbesitzer ohne Mitspracherecht für die Masse der Bevölkerung.1 Daran änderte sich erst durch die Sozialreformen unter der Labour Party nach dem Zweiten Weltkrieg etwas. Schon Margaret ThatcherThatcher suchte die Reformen wieder rückgängig zu machen, teilweise mit Erfolg.

      In den Lehrbüchern wird verkündet, dass die Demokratie mit der französischen und der amerikanischen Revolution zumindest in der westlichen Welt verwirklicht worden sei. Allerdings fanden in den anderen Staaten Europas derartige Revolutionen erst im 19. oder 20. Jahrhundert oder überhaupt nicht statt. Ferner blieben in allen Staaten, auch in Frankreich und den USA, bis ins 20. Jahrhundert die meisten Menschen von politischer Beteiligung ausgeschlossen. Sklaven und Arbeiter erhielten in den meisten Staaten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bürgerrechte, Frauen und Kolonialvölker während des 20. Jahrhunderts. Einigen Gruppen, wie Ausländern und Strafgefangenen, bleiben sie vielerorts bis heute verwehrt. Die Demokratie im Sinne der formalen Gleichheit aller Menschen wurde selbst in Frankreich und den USA nicht mit der Revolution, sondern schrittweise eingeführt. Die später integrierten Gruppen sind bis heute unterprivilegiert und haben kaum Kapital und nur einen geringen Einfluss auf die Politik.

      Heute bezeichnen sich Großbritannien mit einer verfassungsmäßig privilegierten Aristokratie und einem Monarchen, Schweden mit einem starken Sozialstaat und einem Monarchen, die Schweiz mit Tendenzen zur direkten Demokratie und China mit einer kommunistischen Ein-Parteien-Herrschaft allesamt als Demokratien. Keiner dieser Nationalstaaten hat die Gleichheit der Menschen verwirklicht. Die Staaten unterscheiden sich fundamental voneinander, haben aber gemeinsam, dass die Gruppe der Kapitalisten den Kern der Oberklasse bildet. Die Unterschiede beruhen auf der jeweiligen Vorgeschichte der Demokratie und dem Anteil, den die sozialen Gruppen ohne Kapitalbesitz an der Gestaltung des Staates erringen konnten.

      Die Varianten der Demokratie resultieren aus politischen Kämpfen. In einigen Staaten wurden infolge der Kämpfe viele Privilegien des Adels abgeschafft. Einige Länder haben auch die Vorrechte des Kapitals begrenzt. Und die sozialistischen Revolutionen haben sogar versucht, die Gruppe der Kapitalisten abzuschaffen. Nirgendwo wurden jedoch die Strukturen der Herrschaft beseitigt, überall herrschte eine kleine Gruppe von Menschen über den Rest, sei es offensichtlich und formal legitimiert, sei es indirekt und unsichtbar. Das Buch beschäftigt sich vor allem mit der unsichtbaren Herrschaft.

      Nach der Einführung einer Demokratie bestand prinzipiell eine Spannung zwischen dem Anspruch auf Gleichheit und den Strukturen der Ungleichheit. Es besteht auch ein latenter Gegensatz zwischen der Konzentration des Kapitals und der Volksvertretung, der sich oft als Konflikt zwischen Staat und Wirtschaft darstellt. Der demokratische Staat bietet immer die prinzipielle Möglichkeit, dass unterprivilegierte Gruppen die Politik beeinflussen oder gar die Herrschaft ergreifen. Da die unterprivilegierten Gruppen jedoch keinen Zugang zum Kapital haben, ist es für sie ungleich schwieriger, Einfluss auf die Politik zu nehmen.

      Die Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften ist offenkundig. Während manche Familien Schlösser, Wälder, Unternehmen und Finanzinvestitionen im Wert von Milliarden besitzen, haben die meisten Menschen Mühe, mit harter Arbeit über die Runden zu kommen. Es ist auch offenkundig, dass die Nachkommen von früher unterprivilegierten Gruppen – wie Kolonialvölker, Sklaven, Arbeiter oder ethnische Minderheiten – auch heute unterprivilegiert sind. Gerade in demokratischen Staaten müsste diese Ungleichheit eigentlich ein Skandal sein, der zum sofortigen Handeln auffordert. Warum ist das nicht der Fall? Die Antwort lautet, dass Ungleichheit im Kapitalismus offiziell zum Resultat von Konkurrenz erklärt wird. Dass die Ausgangssituation der Konkurrenz von Ungleichheit geprägt ist, wird unsichtbar gemacht. Dadurch wirkt die Ungleichheit legitim. Das ist das vorrangige Geheimnis, warum sich der Kapitalismus trotz der strukturellen und historisch einzigartigen Ungleichheit aufrechtzuerhalten vermag.

      Die Sozialwissenschaften der letzten Jahrhunderte haben sich zu einem beträchtlichen Teil mit der Ungleichheit beschäftigt. Die Tradition des Liberalismus versucht seit dem 17. Jahrhundert bis heute, die Menschen zu faktisch gleichen Bürgern des Staates zu erklären. Alle sollen die gleichen politischen und wirtschaftlichen Chancen haben. Obwohl das in direktem Widerspruch zur Wirklichkeit steht, die wir jeden Tag erfahren, glauben fast alle von uns an diese Grundlage des Liberalismus: Wir sind alle gleich, uns stehen alle Möglichkeiten offen, und wer im Elend lebt, hat zumindest teilweise selbst daran schuld.

      Der Liberalismus lässt sich zum englischen Philosophen Thomas HobbesHobbes, Thomas zurückverfolgen. Inmitten des englischen Bürgerkriegs hat er sein Hauptwerk, Leviathan, geschrieben und 1651 veröffentlicht.2 Hobbes wandte Galileis Wissenschaft auf die Gesellschaft an und erklärte alle Menschen für gleiche Atome, die miteinander konkurrieren. Der Souverän, vertreten durch den Monarchen, sollte die Konkurrenz regulieren. Diese Idee hat Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques Mitte des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt und den Monarchen durch eine Volksvertretung ersetzt.3 Das Konzept der modernen Demokratie war


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