Die Gänsemagd und ihr treues Pferd Falada. Brüder Grimm
Читать онлайн книгу.»Spar dir deine schlauen Sprüche, der Rote ist jung und voller Kraft, und Falada ist auch nicht mehr, was er mal war. Eigentlich gehörte er schon längst nicht mehr hierher. Es ist sein Glück, dass es ihm gelungen ist, sich deine Liebe zu verdienen.«
Die Prinzessin seufzte und folgte Selena in den Pferdestall, um den Hengst zu satteln und zu zäumen. Helena wollte Falada schon überreden, den Roten vorzulassen. Wenigstens ein bisschen, damit ihre Freundin nicht traurig wäre, die diesen kleinen Wettkampf offensichtlich überaus wichtig nahm.
Falada schnaubte nur einmal kurz und unwillig auf. Die Prinzessin verstand ihn auch ohne Worte. Wie hätte er irgendjemanden vorlassen können? Ein königliches Ross, gestählt in vielen Feldzügen – jemand wie er gab nicht klein bei, um fremde Launen zu befriedigen.
Sie beschlossen, durch den Wald bis zu der Grenze zu reiten, die die Prinzessin noch niemals überquert hatte. Die Sonne leuchtete durch die Zweige, die Vögel trällerten so schön wie eh und je, und ihr Kleid flatterte im Sommerwind. Alles um sie her war von Frieden und Ruhe erfüllt. Alles außer Selena. »Was für seltsame Gedanken sie doch mitunter hegt«, überlegte die Prinzessin. »Wahrscheinlich werde ich sie nie verstehen!« Dennoch konnte die Prinzessin ihrer Zofe nichts abschlagen. Warum sollten sie auch nicht mit dem Wind davonjagen, wenn es die Freundin doch so gern wollte? Der Wind zauste Helenas golden schimmerndes Haar, und die dünnen Haarnadeln hielten seinem Gewicht nicht stand, sodass es sich wie ein prächtiger goldener Wasserfall über ihre Schultern ergoss. Ihr Pferd lief im Eifer des Gefechts schneller als der Wind, ganz so, als würde es eine neue Naturgewalt verkörpern. Sie schmiegte sich fest an Falada. Ihn anzutreiben war nicht nötig, denn er wusste selbst, dass er gewinnen musste. Selena preschte lachend hinterdrein. »Ich werde dich sowieso überholen!«, rief sie, wobei sie ihrem Pferd die Sporen gab und sich mit ihrem ganzen Körper darüberbeugte. Ihr offenes Haar wehte im Wind und wirkte wie ein Schwall aus glänzendem Basalt.
Bald darauf aber erstarb ihr Lachen. Die Haare klebten ihr an der Stirn, und Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper. Sie gab sich alle Mühe, nicht hinter der Prinzessin zurückzubleiben, doch fiel ihr das immer schwerer. Sie sagte nichts mehr und antwortete Helena nicht.
»Ich werde nicht nur als Erste ans Ziel kommen, sondern auch eine Trophäe mitbringen! Hüüüü!«, rief Selena und schlug ihr Pferd, das sich inzwischen heißgelaufen hatte, immer und immer wieder auf die Flanken. In diesem Moment bäumte der Rote sich auf, stieg auf die Hinterhufe empor, seine Augen weiteten sich in Raserei, und er schnellte an der Prinzessin vorbei, wobei er seinen Rivalen fast an der Seite berührt hätte. Selena hielt sich im Sattel, und Helena hörte ihr Lachen, als sie hinter einer Wegbiegung verschwand.
Die Fröhlichkeit der Prinzessin war verflogen, und auf einmal wurde ihr traurig zumute. Sie ließ Falada im Schritttempo laufen und sah immer wieder ins Dickicht des Waldes, weil sie versuchte, Selenas Gedanken zu erraten. Was sollte dieses dumme Draufgängertum? Dem Roten hatte das doch sicher wehgetan. Und was sollte das heißen – »der letzte Tag in Freiheit«, wenn diese doch, im Gegenteil, gerade erst begann? Mit solcherlei Gedanken ritt sie weiter, als sie wieder das Getrappel von Pferdehufen vernahm. Die Zofe kam zurück, in ihrem müden Gesichtsausdruck schwang Unwille mit.
»Warum hast du das Rennen abgebrochen?«, fragte sie.
»Ich habe es nicht abgebrochen«, antwortete die Prinzessin. »Du warst tatsächlich schneller als wir. Falada ist nicht hinter dem Roten her gekommen, du hast gewonnen.«
»Na, also! Hier hast du!« Selena reichte der Prinzessin ein kleines Ledersäckchen. »Das ist für die königliche Tafel.«
Die Prinzessin band das Säckchen auf, und ein toter Vogel fiel heraus. Es war ein kleiner Birkhahn, kein Junges mehr, doch auch noch nicht ausgewachsen.
Helena wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Wofür soll das denn sein? Wir haben doch genügend Vögel am Hof«, meinte sie unsicher.
»Du Dummerchen, warum verstehst du das denn nicht?« Selena kniff die Augen zusammen. »Es muss doch ein richtiger Sieg sein. Ich habe das getan, wozu du niemals imstande wärst, auch wenn du den Wind auf deiner Seite hast.« In diesem Moment sprach Falada:
»Ja, du bist als Erste ins Ziel gekommen, doch blutbefleckt und mit einem bezwungenen Vögelchen, das noch nicht einmal wusste, was es bedeutet zu leben. Sag, genießt du deinen Sieg?«
»Dein Pferd kann einem richtig die Laune verderben!« Selenas Miene verdüsterte sich. »Merkst du denn nicht, dass er immer zwischen uns steht, weil er mich deiner nicht für würdig hält?«, stieß sie aus und strebte wieder dem Schloss entgegen. Falada und die Prinzessin ließ sie hinter sich zurück.
Falada schwieg. Er allein hatte die feinen roten Blutspuren auf der bräunlichen Flanke des Roten und die klaffende Wunde gesehen, die ihm die spitzen Sporen zugefügt hatten. Doch was hätte er dazu noch sagen sollen?
Kurz darauf bat die Königin Helena tatsächlich in das Empfangszimmer, um ihr eine ungeheure Neuigkeit mitzuteilen: die Verlobung der Prinzessin. Ihr Vater, der verstorbene König, hatte sie bereits vor langer Zeit dem Sohn seines Waffengefährten im Nachbarreich versprochen. Dieser König war schon alt, und es war für den Prinzen an der Zeit zu heiraten und die Bürde der Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die Prinzessin war verwirrt, doch sie verspürte keinerlei Angst. Der Eintritt ins Erwachsenenleben war ihr noch so weit entfernt und unerreichbar erschienen, fast wie in einem Märchen. Und nun so eine unerwartete Wendung!
Sobald alle Vorbereitungen getroffen wären, sollte sie auf die Reise gehen, und ihr zukünftiger Ehemann würde sie in ihrem neuen Heim erwarten. Von dem Weg, den sie gehen sollte, gab es kein Zurück mehr. Die Königin faltete ein Samttüchlein auseinander, entnahm ihm das Bildnis eines ernsten Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen und lächelte ihn zärtlich an.
»Hier ist er noch ein kleines Kind, fünf Lenze vielleicht, nicht mehr. Wir haben diese Bilder nach dem Krieg ausgetauscht, und damals haben wir auch unseren Bund besiegelt.«
»Sag, Mutter, warum habe ich die ganze Zeit über nichts davon gewusst, warum hast du dieses Bildnis vor mir verborgen gehalten und mir nie gesagt, wem ich versprochen bin?«, fragte die Prinzessin verwundert, als sie das Bild entgegennahm.
»Was bringt es, in die Zukunft zu blicken, wenn wir doch nicht einmal die Gegenwart verstehen? Jetzt aber ist deine Zeit gekommen.« Die Königin lächelte.
Helena konnte die Veränderungen, die ihr bevorstanden, noch gar nicht glauben; sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Das Bildnis des Prinzen wurde in einer grünen Schatulle aufbewahrt. Sie war mit Smaragden besetzt, die wunderbar zu seinen Augen passten.
Die Wochen vergingen bei all dem geschäftigen Treiben der Vorbereitungen wie im Fluge. Die Prinzessin lernte weiterhin fleißig, streifte nach wie vor durch die Wälder, ritt auf Falada ausgefallene Figuren und lauschte dem Gezwitscher der Vögel. Die Hufe des Hengstes erfüllten den Wald mit ihrem Getrappel, das sich zu den anderen vertrauten Geräuschen gesellte, und der herbe Geruch des Pferdes war für Helena der Duft von Heimat und Glück. Unfrei fühlte sie sich keineswegs.
Immer öfter holte sie das Bildnis des Prinzen aus der Schatulle. Er war darauf wirklich noch ein kleiner Junge, und sein freundliches, offenes Lächeln ließ ihn noch jünger wirken. Wenn sie seine Gesichtszüge ansah, stellte sich die Prinzessin ihr unbekannte Gebiete vor und sich selbst als deren neue Königin. Endlich erwartete sie das richtige Leben, auf das sie sich so lange vorbereitet hatte! Nach und nach trat an die Stelle von Aufregung und Verwirrung ein ruhiges Warten, und bei jedem Blick auf den ihr Zugedachten blieb ihr fast das Herz stehen. Die Prinzessin nahm von nun an das Bildnis auch zu ihren Ausritten mit, um es auf der schattigen Waldlichtung herauszuholen und Gespräche mit ihm zu führen.
»Habt Ihr heute wohl geruht, mein Prinz?« »Liebt Ihr es, die ausgetretenen Pfade zu verlassen? Ach, tatsächlich? Mehr als alles andere? Oh, dann habt Ihr vielleicht Lust, mich von nun an zu begleiten?« »Ich bin Euch überaus verbunden, verehrter