Bürgergesellschaft heute. Группа авторов

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als Leiter der Creditanstalt während der Krise 1931/32 entsprechend gedankt, ihn im Gegenteil bei der Durchführung dieser mühevollen Geschäfte auch noch nach Kräften behindert.34 Spitzmüllers Memoiren sind kein Einzelfall. Die Erinnerungen von Hans Loewenfeld-Russ, der als höchst anerkannter Ernährungsfachmann nicht nur der Monarchie, sondern auch noch der jungen Republik in unveränderter Loyalität zur Verfügung stand, beschreiben die Blockade jeder weiteren öffentlichen Karriere seitens der christlichsozialen Partei, nachdem er dort als Folge einer Äußerung im Kabinett als Sympathisant der Sozialdemokraten enttarnt schien.35

      Unternehmerkreise hielten daher schon früh Ausschau nach Alternativen. Sie unterstützten die Heimwehren als militärische Kraft gegen den Republikanischen Schutzbund der Sozialdemokratie. Besonders die Leitung der „Alpine“ in der Steiermark forcierte die Heimwehren. Hier wurde von der Firmenleitung zur Schwächung der sozialdemokratischen Gewerkschaften auch eine „gelbe“ Heimwehrgewerkschaft gefördert. Bürgerliche Frustration äußert sich besonders deutlich im Wiener Wahlergebnis des Jahres 1932, als bei den Gemeinde- bzw. Landtagswahlen die Christlichsozialen herbe Verluste zugunsten der Nationalsozialisten erlitten.

      Ende des Bürgertums?

      Trotz der oft beschworenen Verluste und Einschnitte – die in jeder Erinnerung vorkommen – bedeutete das Ende der Monarchie wohl doch (noch) nicht das Ende der Bürgerwelt. Dieses kam erst 1938, als das jüdische Bürgertum (oder, genauer, das Bürgertum jüdischer Abstammung, denn hier ging es ja nicht um religiöse Bekenntnisse), aller seiner Vermögenswerte beraubt wurde.36 Die Arisierungsakten, so Peter Melichar einmal gesprächsweise, enthielten das größte geschlossene Material zur Kulturgeschichte des (so genannten „jüdischen“) Bürgertums der Zwischenkriegszeit. Zweifellos waren die „Arisierungen“ ein viel stärkerer Bruch in den immerhin bis jetzt zu verfolgenden Kontinuitäten der bürgerlichen Welt, die durch Flucht und (zuletzt) Deportation nach Theresienstadt oder Auschwitz endgültig vernichtet wurde.

      Man wird daher die großen Brüche von 1918, 1938 und 1945 als Etappen auf dem Weg in die nachbürgerliche Epoche interpretieren können – zuerst verlor das österreichische Bürgertum große Teile seiner ökonomischen Macht, dann, ab 1938, verloren große Teile dieses Bürgertums (sein großer aus dem Judentum gekommener Anteil) Besitz, Heimat und oft das Leben. Und 1945 erlebte das ehedem großdeutsch-liberale Bürgertum eine ähnliche, wenngleich nicht so katastrophale Deprivation.

      Nehmen wir also an, dass jene bürgerlichen Schichten, die im 19. Jahrhundert die „bürgerliche Gesellschaft“ dominierten, 1918/1938/1945 ihre Existenzgrundlagen weitgehend einbüßten. Brachte das Ende von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus eine Renaissance des Bürgertums mit sich? Es gibt zwar Kontinuitäten in nicht wenigen Familien, auch in Unternehmungen, aber gerade Familienunternehmen neigen dazu, nach einigen Generationen nicht mehr als solche weitergeführt werden zu können. Als eine ökonomisch, geistig und kulturell führende Klasse, wie es das deutsch-liberale Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, lässt sich das Bürgertum nicht rekonstruieren.

      Wir kehren zurück zu den eingangs getroffenen Feststellungen über Bürger- bzw. Zivilgesellschaft. Die Fragen lauten, stark verkürzt: Wie viel an traditioneller Bürgerlichkeit benötigt eine demokratische, staatsbürgerliche Gesellschaft freier Bürger zu ihrem gedeihlichen Funktionieren? War die große Krise von 1918–1945 vielleicht auch deshalb so katastrophal, weil sie gerade das Bürgertum so massiv betroffen hat? Und war die Unfähigkeit der neuen Staaten, dem „alten“ Bürgertum der Monarchie in ausreichendem Maße eine neue Beheimatung anzubieten, einer der (mehreren) Gründe für den relativ raschen Untergang der Ordnung von 1918/19? Und: Gibt es die Möglichkeit einer demokratischen „Civil Society“ ohne gesellschaftliche Gruppen, die, gleich ob sie sich als „bürgerlich“ verstehen oder nicht, doch jenen Wertekanon vertreten, der dem „klassischen“ Bürgertum zu eigen war: hohe Wertschätzung des selbstbestimmten Individuums sowie persönlicher Leistung und Tüchtigkeit, verbunden mit dem Glauben an die Leistungsfähigkeit freier Assoziationen und der Mitwirkung in der Selbstverwaltung des Gemeinwesens; eine optimistische, wissenschaftsgestützte Wahrnehmung der Menschheitsentwicklung, gepaart mit tiefem Misstrauen gegen alle vorgefertigten und „von oben“ verordneten Lösungen?

      Andererseits: Vieles von dem, was vom und im Bürgertum des 19. Jahrhunderts angestrebt und vorbereitet wurde – die Verbreiterung der Bildungsmöglichkeiten, das Vorantreiben des technischen Fortschritts, die Verbesserung der materiellen Chancen und des Lebensstandards für immer breitere Schichten –, konnte nach dem Ende des Bürgertums tatsächlich realisiert werden, sodass heute viele Menschen bürgerlicher leben als im versunkenen Zeitalter des Bürgertums. Und sie haben auch in viel höherem Maße die Möglichkeit, sich zivilgesellschaftlich zu betätigen.

      1 https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilgesellschaft (Zugriff 3. 11. 2020).

      2 https://www.bing.com/search?q=obcanske+forum&form=PRUSEN&pc=EUPP_UE12&mkt=en-us&httpsmsn=1&msnews=1&rec_search=1&refig=64bde755d3b54d88bbd2f1cb325b839e&sp=2&qs=SC&pq=obcanski+forum&sk=HS1&sc=3-14&cvid=64bde755d3b54d88bbd2f1cb325b839e (Zugriff 3. 11. 2020).

      3 https://en.wikipedia.org/wiki/Burgus (Zugriff 3. 11. 2020).

      4 https://de.wiktionary.org/wiki/zivil (Zugriff 3. 11. 2020).

      5 Das Van-Swieten-Zitat nach Ernst Wangermann, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung, Wien 1978, S. 79.

      6 Über das ABGB existiert eine breite Literatur. Hier sei nur verwiesen auf Walter Selb / Herbert Hofmeister (Hg.), Forschungsband Franz von Zeiller (1751−1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien u. a. 1980.

      7 Wenn keine besonderen Verweise erfolgen, bezieht sich der Autor auf dessen Sozialgeschichte Österreichs, 2. Aufl., Wien/München 2001.

      8 Anonym (Eduard von Bauernfeld), Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers, Leipzig 1842, S. 16.

      9 Wolfgang Häusler, Schubumkehr. Von der Tradition der demokratischen Revolution 1848 zu Deutschnationalismus und Antisemitismus, in: Österreich in Geschichte und Literatur 64, 2020, Heft 1, S. 4–28, hier S. 9.

      10 Häusler, Schubumkehr, passim, führt diesen Wandel auf das Scheitern der bürgerlichen Revolution zurück.

      11 Zur österreichischen Bürokratie des 18. und 19. Jahrhunderts hat Waltraud Heindl die wichtigsten Werke publiziert: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Wien/Köln/Graz 1991; und: Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich Band 2, 1848– 1914, Wien 2013.

      12 Zu diesem Problemkreis grundlegend Harm-Hinrich Brandt, Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978. Die daraus resultierende Diskussion dokumentiert in Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs und Verwaltungsproblem, Wien/Köln/Weimar 2014.

      13 Ernst Bruckmüller (Hg.), Korruption in Österreich (Austriaca), Wien 2011.

      14 Zitiert nach Häusler, Schubumkehr, S. 9.

      15 Ernst Frh.v. Plener, Reden: 1873–1911, Stuttgart/Leipzig 1911, 1987 (Rede im Herrenhaus, am 2. Dez. 1905).

      16 Joseph von Friedenfels, Die individuelle Bewegung der Personaleinkommensteuer-Zensiten und die Höhe ihres Einkommens in den Jahren 1906– 1908. In: Mitteilungen des K. K. Finanzministeriums, 1. Heft, 1913; Beiträge zur Statistik der Personaleinkommensteuer in den Jahren 1903 bis 1907. Wien 1908.