Bürgergesellschaft heute. Группа авторов

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Lage, sich „vom Guten und Schlechten, von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen“ und sich darüber untereinander mit anderen Menschen politisch auszutauschen und das Zusammenleben aus politischer Perspektive auf diese Weise zu gestalten.11 Erst in dieser Bestimmung liegt nach Aristoteles der Unterschied zwischen dem Menschen und den (anderen) Tieren begründet.

      (iii) Die aristotelische politische Anthropologie verankert den Menschen und dessen Lebensführung also in einer politischen Lebensweise mit anderen Menschen. Der Mensch ist sowohl für das bloße (Über-)Leben als auch für das gute und gelingende Leben auf den Mitmenschen – in unterschiedlicher Art und Weise – unmittelbar angewiesen. Demnach ist der Mensch nicht nur zôon politikon wie auch andere Tiere, also von Natur aus politisch lebend, und auch nicht nur zôon logon echon, vernunft- und sprachbegabt, sondern darüber hinaus auch zôon koinonikon, ein „Gemeinschaftslebewesen“12, das den Bezug zum Mitmenschen braucht wie auch der Einzelne vom Rest der Gemeinschaft gebraucht wird. Ein formales oberflächliches (politisches) Nebeneinanderherleben, wie das unbekümmerte „Grasen auf derselben Weide“13 ist für das Leben des Menschen der aristotelischen politischen Anthropologie nach ausgeschlossen.

      Eindringlich hält Aristoteles diese für alles Politische grundlegende Einsicht der unabdingbaren Gemeinschaftszugehörigkeit des Menschen inmitten der Entwicklung seiner politischen Anthropologie in der „Politik“ fest: Derjenige – einzelne Mensch –, der entweder nicht in der Lage dazu ist, an Formen von Gemeinschaft zu partizipieren oder der Gemeinschaft mit anderen Menschen aufgrund seiner individuellen Autarkie nicht bedarf, der sei erstens kein Teil des Staates (d. h. der Polis) und zweitens somit entweder ein (wildes) Tier oder aber ein Gott.14 Doch das wilde Tierhafte zum einen und das autarke Göttliche zum anderen träfen auf den Menschen und dessen Natur nicht zu, zumal dieser für sein Leben in vielen Belangen auf unterschiedliche Formen der Gemeinschaft angewiesen sei.

      Aus ethisch-politischer Perspektive erfordert diese Gemeinschaftszugehörigkeit des Menschen aktives politisches Engagement und die Übernahme politischer Verantwortung durch den Bürger. Wie dieses Engagement aussehen kann, beschreibt Aristoteles – neben anderen Stellen in der „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ – in „Politik“ VII und VIII, wo er seinen Staat nach bestem Ermessen entwickelt, die sogenannte „Polis nach Wunsch“.15 Ein Polis-Staatsentwurf auf dem Reißbrett. Im Zuge dieser ethisch-politischen Untersuchungen schreibt er einleitend über das seiner Ansicht nach erstrebenswerteste Leben des Bürgers innerhalb der politischen Gemeinschaft dieses Staats nach bestem Ermessen, das unweigerlich ethisch-politische Grundlagen beinhaltet.16

      Auf der einen Seite spricht Aristoteles über die ethische wie politische Unverzichtbarkeit politischer Partizipation des Bürgers innerhalb der politischen Gemeinschaft, der politikê koinonia. In diesem Staatsentwurf ist die politische Partizipation des Bürgers bindend.17 Denn erst die Übernahme von Bürgerpflichten (z. B. militärische, administrative, politische, juristische, kultische) könne Bürgerrechte im engeren wie weiteren Verständnis mit sich bringen (z. B. subjektive Rechtsansprüche, freie Zeit, eigene Interessen, selbstverantwortete Lebensführung, individuelle Sinnerfüllung). Diese Zeit des unverzichtbaren wie geforderten politischen Engagements des Bürgers – sowie jene der individuellen Fürsorge bzw. Arbeit für die Haus- und Hofgemeinschaft – bezeichnet Aristoteles als eine Zeit der „Nichtmuße“ (ascholia), da es hierbei praktischer Tätigkeiten verlange, denen der Bürger unmittelbar nachzugehen habe. Alles ganz im Sinne von politischer Autarkie und politischer Autonomie der Polis.

      Auf der anderen Seite jedoch handelt Aristoteles über die Zeit der „Muße“ (scholê) des freien Bürgers in „Politik“ VII und VIII. Es handelt sich dabei um die Zeit der individuellen sinnerfüllten Lebensgestaltung des Einzelnen, über die Politik und die politische Partizipation hinaus. In anderen Worten: Wer seinen politischen Bürgerpflichten in diesem aristotelischen „Staat nach bestem Ermessen“ nachkommt und diese Pflichten im Sinne der Gesetze und zum Wohle der Polis gewissen- wie tugendhaft erfülle, dem stehe – im weiteren Sinne – das Recht zu, sich mit Dingen zu beschäftigen, die über das Politische hinausgehen. Es handelt sich hierbei also im Grunde genommen um das etwaige Potenzial für eine individuelle Lebensgestaltung (Muße), die nach eigenem Dafürhalten bestimmt werden kann, allerdings erst im Anschluss an die Zeit der politischen Partizipation (Nichtmuße). Somit nur dann, wenn die Pflichten der politischen Belange vorab wahrgenommen wurden. Und für die Zeit der Muße empfiehlt Aristoteles dem Bürger eine umsichtige philosophische Auseinandersetzung und Bildung im Allgemeinen. Es ist nicht sehr weit hergeholt, an dieser Stelle zu bemerken, dass Aristoteles zumindest in den genannten Texten über eine Art Bildungsbürgertum nachdenkt.

      3. Von der Bürgergemeinschaft zur Bürgergesellschaft: Die Neuzeit

      Die drei wichtigsten Punkte der Veränderungen von der antiken Bürgergemeinschaft hin zur modernen Bürgergesellschaft lassen sich aus philosophischer Perspektive in den Begriffen „Individualität“, „Mündigkeit“ und „Gesellschaft“ darstellen.

       (i) Individualität

      Wie ausgeführt, haben die aristotelische praktische Philosophie im Allgemeinen und die politische Anthropologie im Speziellen im Laufe der Geschichte der Philosophie Zustimmung, jedoch auch Kritik erfahren. Insbesondere im politischen Denken der Neuzeit wurden viele aristotelische Positionen seiner ethisch-politischen Symbiosen auf ihre allgemeine Gültigkeit hin hinterfragt. Zwischen Ethik und Politik wurde im Zuge des politischen Denkens beginnend mit der Neuzeit im Vergleich mit der antiken klassischen Theorie eine größere Distanz hergestellt. Neben dem Zweifel an der aristotelischen Grundkonstante, dass der Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftslebewesen sei, wurde auch an der aristotelischen „praktisch-politischen Lebensform“, dem bios praktikos kai politikos18 und dessen bindende Notwendigkeit für den Bürger Kritik geäußert.

      Bereits John Locke hat in seiner Philosophie die Möglichkeiten vieler unterschiedlicher Lebensführungen hervorgehoben und diese einer Individualisierung zugeführt. Diese individuellen Möglichkeiten des Einzelnen hat er aufbauend auf den Grundrechten „life, liberty and happiness“ verankert. Das Neue an der Neuzeit ist jedoch nicht die Postulierung des „pursuit of happiness“ – wovon bereits Aristoteles gehandelt hat – sondern liegt in einem anderen Detail: in der Bestimmung des Strebens nach Glück als eine Tätigkeit, die jeder Mensch – nicht nur der freie (männliche) Bürger – für sich alleine ausrichten wie bestimmen kann und das auch alleine tun soll. Denn alle Menschen, so John Locke, suchen nach dem Glück durch die Gestaltung ihrer individuellen Lebensführung, aber nicht alle Menschen suchen ein Glück gleicher Art oder das Glück in denselben Dingen. Somit lautet im Vergleich zur Antike die Devise des modernen Individuums nach John Locke: „Die Menschen mögen verschiedene Dinge [Anm.: in Bezug auf die individuelle Lebensführung] wählen und doch alle die richtige Wahl treffen.“19

      Demnach lassen sich individuelle Lebenskonzepte nicht bzw. kaum verallgemeinern, geschweige denn in einem einzigen Gesamtbild darstellen. Die – nicht gänzlich ironiefreie – Kritik von John Locke an der praktisch-politischen Philosophie der Antike lautet, dass sie dies dennoch versucht habe und so einen äußerst eingeschränkten Blickwinkel auf die Lebensführung des Menschen gehabt habe. Und so hält er fest: „Mit ebensolchem Recht hätte man darüber streiten können, ob Äpfel, Pflaumen oder Nüsse am besten schmeckten, und sich danach in Schulen teilen können“.20

       (ii) Mündigkeit

      Neben dem wachsenden Bewusstsein des Individuums in der Erkenntnis der Individualität kam spätestens im Zuge der Philosophie der Aufklärung die Notwendigkeit des mündigen Menschen hinzu. Anders als in der Philosophie der Antike nun explizit für alle Menschen. Immanuel Kant beantwortet in einem Text aus dem Jahr 1783 die Frage „Was ist Aufklärung?“ mit den folgenden Worten: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen


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