Das Licht und der Bär. Rudolf Alexander Mayr
Читать онлайн книгу.Tagen den Zugang zum Palung Ri, einem Siebentausender gegenüber des Cho Oyu, und während unser Freund Salami Dawa nach einem brauchbaren Pfad zwischen den großen Felsblöcken suchte und auf einen toten Tibeter stieß, der auf der Flucht vor der chinesischen Polizei hier heroben – in der scheinbar friedlichsten Gegend der Welt, auf sechstausenddreihundert Metern – den Tod gefunden hatte, erhielten wir anderen im Lager Besuch von drei jungen Männern.
Sie torkelten mehr, als sie gingen, und beim Näherkommen erkannte ich, dass sie schneeblind waren. Wir legten sie auf eine Isoliermatte, und ich brachte ihnen Dexagenta-Salbe in die Bindehautsäcke ein. Sie hielten ganz ruhig und bewegten sich nicht. Als ich ihnen jedoch sagte, sie sollten liegen bleiben, um wenigstens eine halbe Stunde zu schlafen, sprangen sie auf und sagten, dass die Salbe schon wirke. Ja, sie wirke schon – und sie könnten wieder sehen, und überhaupt wäre ihnen die Polizei auf den Fersen. Sie würden erschossen werden, sagten sie, wenn sie erwischt würden, und ließen sich nicht aufhalten. Gleich darauf hielten sie auf große Felsblöcke hinter dem Lager zu, mit deren Grau sie bald verschwammen.
Einige Tage später machten wir uns wieder auf den Heimweg. Wieder war der Himmel wolkenlos, und sein dunkles Blau umrahmte die Konturen der langsam kleiner werdenden, weiß schimmernden Berge. Bergab und talauswärts schlenderten wir leichtfüßig dahin, und der Wind trieb uns den Duft von Wacholder entgegen und ließ die stumpfen, graubraunen Gräser schwanken und ihre silbrigen Unterseiten blinken, als gäbe es noch eine andere, unbekannte Seite an ihnen. Nach fünf oder sechs Stunden Marsch hatten wir wieder die Stelle erreicht, wo wir eine Woche zuvor den Yak gesehen hatten.
Er lag noch immer da, den mächtigen Kopf auf die Seite gelegt. Aber er hatte die Augen geöffnet, und wir sahen, wie er im Wind die Lider schloss und wieder anhob. Man hatte ihm einen großen Ballen Heu vor die Nase gelegt und eine Schüssel mit Wasser hingestellt, aber das Tier schien nicht mehr die Kraft zu haben, sich daran zu laben. So saßen wir lange da, Maria und ich, unterhielten uns leise und fanden schließlich, dass hier doch ein Gnadenschuss dem Leiden ein Ende machen könnte. Aber dann wieder schwankten wir in unserer Meinung wie das Gras im Wind, denn der Anblick des Yaks bewegte uns selbst. Wir schwankten und schwankten zwischen der im christlichen Glauben gründenden Vorstellung der Gnade, der die Möglichkeit miteinschließt, das Leid eines Tieres zu beendigen, wenn es denn unumgänglich wäre, und dann wieder der kompromisslosen Haltung der Tibeter, eines jeden Wesen Leben zu respektieren, weil es ihm eben selbst das höchste Gut darstellt.
Nach einer langen Zeit standen wir wieder auf und schulterten unsere Rucksäcke. In unerhörter Heiterkeit nickten uns kleine Glockenblumen am Wegrand zu, und nach Norden hin grüßten ocker- und magentafarbene Wellen aus Hügeln, deren glimmerhaltiger Sand alles Irdische in einen tintenblauen Himmel sandte. Ein Spiegel, so groß, wie die Welt nur sein konnte.
Dieses gleißende Land war das Universum eines Sven Hedin, eines Peter Aufschnaiter, eines Herbert Tichy gewesen. Wir hätten es einfangen wollen, in diesen Minuten, mit den Augen und, wenn es nicht anders ginge, mit den Händen, aber so wie alles Licht zerfloss es uns durch die Finger, und keine Kamera der Welt konnte festhalten, was das menschliche Auge nur für einen Augenblick zu sehen vermochte.
An der nächsten großen Biegung des Weges, bevor wir den Yak aus den Augen verloren, drehten wir uns noch einmal zu ihm um. Er hatte sich nicht mehr bewegt. In der graubraunen Landschaft bildete sein Fell einen kaum mehr wahrnehmbaren Fleck, wie die ferne, ferne Erinnerung an eine Zeit, als man dieses Land noch als heilig empfand.
Die Spucknäpfe von Xangmu
Als im Jahre 1988 die kommunistische Führung Chinas das besetzte Tibet für den Tourismus zugänglich machte, war Wolfi mit einer kleinen Gruppe von gemeinsamen Freunden einer der Ersten, die einen Teil dieses großen, weiten Landes bereisten. Wenn man von Nepal kommt, ist Kodari der letzte Ort vor der Grenze. Der Reisende tut gut daran, sich hier auf einen jähen Paradigmenwechsel einzustellen.
In diesem kleinen nepalesischen Grenzdörfchen war alles von Leben erfüllt, selbst die in der milden Sonne glitzernden Müllhaufen schienen eine Heiterkeit auszustrahlen, die ihren Kollegen jenseits des sechs Meter hohen Eisentores, das die beiden Länder trennt, völlig zu fehlen schien. Alles hier bestand aus Leben, die Kinder und die Katzen und Hunde und jungen Ziegen hüpften im Staub herum, und die Gesichter der Erwachsenen zeigten einen freundlichen Gleichmut, der den anderen Menschen jenseits des Eisenzauns, ähnlich wie Gefangenen, völlig abhandengekommen zu sein schien.
Ich kann mich an die damaligen Erzählungen meiner Freunde nur allzu gut erinnern. Wie sie durch die geöffneten Gittertüren schritten (die sich jeden Tag um Punkt sechs Uhr abends wieder schließen) und dann zu Fuß – es musste sämtliches Gepäck von den Yaks abgeladen und über die Fußgängerbrücke, die sogenannte Brücke der Freundschaft, getragen werden – die jenseitige, auf tibetischem Territorium gelegene Ortschaft Xangmu erreichten, um dort von finster blickenden chinesischen Soldaten in olivgrüner Uniform und Zöllnern mit roten Sternen auf den Tellermützen sehr harsch und abweisend kontrolliert zu werden. Dem einzigen Hotel am Platz zugewiesen, bekam ein jeder sein Zimmer zugeteilt, um feststellen zu müssen, dass die durchaus atemberaubenden Zimmerpreise nicht mit dem Standard korrelierten. Zwar stand in jedem Zimmer ein geräumiger Spucknapf in der Ecke, die Fensterstöcke und selbstredend auch die Fenster fehlten jedoch. So trieb der Himalayawind die Schneeflocken quer durch die Zimmer, und bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass die Spucknäpfe noch nie geleert worden waren, sie waren etwa kniehoch und bis zum Rande vollgefüllt. Bei der leichtesten Berührung zeugte ein leichtes Schwabbeln davon, dass hier nicht immer Minustemperaturen herrschten.
Wohin wollen reisende Frauen und wohl auch Männer, um sich nach einer anstrengenden Busreise frisch zu machen? Natürlich ins Bad. Ein Glück war es, dass Wolfi damals als Erster das Badezimmer betrat, um es, eine Nuance bleicher, gleich wieder zu verlassen und seine Frau zu warnen, es jemals zu betreten. Denn nicht nur die Spucknäpfe, auch die Badewanne war nämlich voll, weil die Vorgänger sie offensichtlich mit der daneben stehenden Toilettenschüssel verwechselt hatten.
So waren meine Erinnerungen an die Erzählungen meiner Freunde, als ich selbst, zusammen mit Helge Mosheimer, einige Jahre später über die Brücke der Freundschaft schritt. Inzwischen hielt eine neue Katastrophe, nämlich die Vogelgrippe, die Welt in Atem, und als wir jenseits der Brücke an der Grenzkontrolle ankamen, mussten wir uns unter Aufsicht von grimmig aussehenden Soldaten zur Gesundenuntersuchung begeben, die darin bestand, dass uns ein ebenso grimmig aussehender Zöllner ohne vorherige Warnung ein pistolenartiges Gebilde an die Stirn hielt. Damit wurde die Temperatur gemessen, und glücklicherweise litt keiner von uns an einer erhöhten Körpertemperatur, sonst wären wir zurückgeschickt worden.
Im Hotel angekommen, stellten wir erfreut fest, dass man die letzten Jahre verwendet hatte, Fensterstöcke und Fenster einzubauen, die Spucknäpfe zu entfernen und die Badezimmer so weit zu säubern, dass der Benutzer nicht durch den bloßen Anblick schon einen Fieberschub erleidet. Dies war alles sehr erfreulich, und wir fühlten uns durch die Gnade der späteren Jahre gebenedeit und verzichteten hier gern auf den ruhmreichen Ruf von Pionieren.
In den folgenden Tagen reisten wir mit dem Geländewagen, bei jeder Gelegenheit streng kontrolliert durch Militärposten, bis an den Fuß der großen Berge, stapften dann einige Tage auf über sechstausend Metern in der Landschaft umher, gerade so lange, bis wir uns wieder auf ein anständiges Essen und ein Bier in der inzwischen als luxuriös erinnerten Umgebung von Xangmu freuten.
Wir waren also guter Dinge, Helge und ich, als wir uns, einige Kilogramm Körpergewicht leichter, auf die Suche nach einem Ort begaben, an dem wir möglichst unkontrolliert und unbelastet ein Bierchen zwitschern konnten. Nach einigem Auf und Ab an der steilen Hauptstraße von Xangmu lockte uns eine Art Bretterverschlag, ihn zu betreten. Er war nicht größer als zweieinhalb mal zweieinhalb Meter, und drinnen, an der linken Seite, saßen an einer kleinen Bar der Wirt und einige Freunde beim Kartenspielen, während auf der Straße die Kinder mit Spielzeugautos aus Holz Ornamente in den Staub des Gehsteiges zauberten.
An der rechten Seite des Bretterverschlages war das einzige kleine Tischchen des Etablissements unbesetzt, und dort ließen wir uns nieder, während