Ein Vermächtnis wird zum Appell. Ernst-August Bremicker
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Einleitung
Ein besonderer Brief
Der zweite Brief des Paulus an sein geistliches Kind Timotheus nimmt unter den Briefen des Apostels Paulus einen besonderen Platz ein. Zwei Merkmale unterscheiden ihn von seinen übrigen Briefen:
1 Es ist der letzte Brief, den Paulus – vom Heiligen Geist inspiriert – überhaupt geschrieben hat. Man nimmt an, dass er ca. im Jahr 66 kurz vor seiner Hinrichtung in Rom verfasst wurde. Insofern haben wir mit diesem Brief ein besonderes Vermächtnis vor uns. Letzte Worte großer Männer Gottes waren häufig bedeutsame Worte. Wir denken etwa an die letzten Worte Jakobs, Moses, Josuas oder Davids, von denen das Alte Testament berichtet. Wir denken besonders an die letzten Worte unseres Herrn in Johannes 13–17, die Er vor seinem Tod an seine Jünger richtete.Hier nun wird das Vermächtnis des Paulus zu einem Appell an sein geistliches Kind Timotheus. Es ist ein besonderes Dokument im Blick auf die Empfindungen von Paulus am Ende seines Lebens. Er befand sich in schwierigen Umständen und litt im Gefängnis in Rom. Er war seinen Leiden gegenüber sicher nicht gleichgültig. Dennoch lag ihm etwas anderes mehr am Herzen: Er wollte Timotheus ermuntern. Er wollte Timotheus warnen. Timotheus sollte im Dienst für seinen Herrn nicht nachlassen, trotz – oder gerade wegen – der schwierigen Umstände, in denen er sich befand.Dieser Brief wird damit zu einer Herausforderung für jeden, der ihn liest, dem Herrn folgt und Ihm dienen möchte. Die Zeit, in der wir leben, ist eine schwierige Zeit. Die Warnungen dieses Briefes haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Das gilt ebenso für die Ermunterungen, die Paulus anspricht. Der Herr möchte jeden von uns im Dienst für Ihn benutzen. Dazu will uns dieser Brief motivieren.
2 Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit der einzige Brief, den der Apostel Paulus aus seiner zweiten Gefangenschaft in Rom geschrieben hat. Wir wissen, dass Paulus zweimal in Rom inhaftiert wurde. In der ersten Gefangenschaft ging es ihm relativ erträglich. Er hatte – zumindest eingeschränkt – die Möglichkeit, für seinen Herrn zu arbeiten. Er befand sich zeitweise in einem eigenen Haus (Apg 28,30) und stand unter Arrest. Dort konnte er Besuch empfangen. Aus dieser ersten Gefangenschaft ist uns eine Reihe von schriftlichen Dokumenten erhalten geblieben. Dazu zählen die Briefe an die Epheser, Kolosser und Philipper. Nach der ersten Gefangenschaft muss Paulus noch einmal auf freiem Fuß gewesen sein, denn er erwähnt, dass er in Troas seinen Mantel und in Milet Trophimus krank zurückließ (Kap. 4,13.20). Offensichtlich hatte er seine Reisetätigkeit erneut aufnehmen können.Bis zu diesem Zeitpunkt galt das Christentum bei den römischen Behörden im Wesentlichen als eine Absplitterung vom Judentum. Man maß ihm keine allzu große Bedeutung bei. Weil sich die Vorwürfe der Juden gegen Paulus als nicht haltbar erwiesen, kam er frei. Ab dem Jahr 64 n. Chr. wurden dann – besonders unter Kaiser Nero, der von 54–68 n. Chr. regierte – die Christen allgemein verfolgt. Paulus wurde erneut inhaftiert. Diesmal war seine Haft mit den unangenehmsten Begleitumständen verbunden: Er saß in einer dunklen Todeszelle irgendwo in den Katakomben von Rom, den sicheren Tod vor Augen. Als römischer Staatsbürger musste er zwar nicht damit rechnen, den Löwen zum Fraß vorgeworfen oder gekreuzigt zu werden. Die Aussicht, enthauptet zu werden, war allerdings ebenfalls alles andere als angenehm.Vor diesem dunklen Hintergrund müssen wir diesen Brief lesen und verstehen. Hinzu kam noch: Nicht nur die äußeren Umstände waren von großem Elend und von Not gekennzeichnet. Paulus erwähnt in Kapitel 1,15 den Umstand, dass die Gläubigen in Kleinasien sich von ihm abgewandt hatten. Sie distanzierten sich von diesem Gefangenen in Rom. Die genauen Gründe dafür können wir nur erahnen. Diese Abwendung empfand Paulus tief. Sie tat ihm sehr weh. Gerade da, wo er mit großem Segen gearbeitet hatte, wollte man ihn nicht mehr haben. Es schien als sei die Frucht seiner Arbeit verloren gegangen.Paulus war diesen Umständen gegenüber keineswegs gleichgültig. Der Brief, den er an Timotheus schreibt, zeugt deutlich davon. Seine Zeilen lassen uns einen Blick in die Empfindungen des Herzens dieses großen Gottesmannes am Ende seines Lebens tun. Trotz seiner widrigen Umstände verfällt Paulus nicht in Resignation oder Depression. Er lehnt sich nicht gegen sein Schicksal auf. Nein, er vertraut seinem Herrn. Er weiß alles, was er erarbeitet hat, in der mächtigen Hand seines Herrn (Kap. 1,12). Dort würde nichts verloren gehen. Er spricht davon, dass er den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und den Glauben bewahrt hatte. Er spricht von der Krone der Gerechtigkeit, die für ihn bereitlag (Kap. 4,7.8).Dennoch ist Paulus in diesem Brief weniger mit sich als vielmehr mit seinem Freund und Bruder Timotheus beschäftigt. Er will ihn erstens vor der Entwicklung warnen, die das christliche Zeugnis auf dieser Erde nehmen würde. Zweitens will er ihm Mut machen, seine Aufgabe zum Dienst ernst zu nehmen (Kap. 1,6) und darin konsequent zu sein. Drittens erinnert er ihn immer wieder an die Hilfsquellen, die ihm zur Verfügung standen. Der Herr bleibt unveränderlich derselbe. Ihn sollte Timotheus nicht aus den Augen verlieren. Daneben wird das Wort Gottes – die unveränderliche Wahrheit – immer wieder erwähnt.
Ein persönlicher Brief
Der Brief an Timotheus ist kein Brief an eine örtliche Versammlung. Er ist an eine Einzelperson gerichtet. Der Ältere, Paulus, schreibt an den Jüngeren, Timotheus. Die beiden waren freundschaftlich miteinander verbunden, besonders im Dienst für den Herrn. Man zählt diesen Brief zu den sogenannten „Pastoral- oder Hirtenbriefen“ (Hirte heißt auf Lateinisch Pastor). Das sind die Briefe, die Paulus an seine engen Mitarbeiter Timotheus und Titus geschrieben hat. Dieser Umstand gibt diesen drei Briefen einen eigenen Charakter. Timotheus und Titus waren persönliche Mitarbeiter von Paulus, die eine spezielle Aufgabe zu erfüllen hatten. Es gibt einzelne Aussagen in diesen Briefen, die wir nur unter diesem Aspekt richtig verstehen können.
Die drei Pastoralbriefe – so unterschiedlich sie in sich sind – haben ein gemeinsames übergeordnetes Thema: Es geht um das Verhalten im Haus Gottes. Gemeint ist damit nicht in erster Linie die innere Ordnung in der örtlichen Versammlung und in den Zusammenkünften. Diese Belehrungen finden wir beispielsweise im ersten Korintherbrief. Das Thema der Ordnung und des Verhaltens ist weiter gefasst und geht über die innere Ordnung hinaus. Es geht in den Pastoralbriefen nicht vordergründig darum, dass wir das Haus Gottes bilden oder dass wir daran bauen (was an und für sich natürlich wahr ist). Es geht vielmehr darum, dass der Christ sich im Haus Gottes befindet und sich deshalb entsprechend zu verhalten hat (1. Tim 3,15). Unser Verhalten, d. h., unsere ganze Lebensführung, soll erstens zum Wohlgefallen dessen sein, dem das Haus gehört – Gott. Er möchte in unserem Verhalten gesehen und geehrt werden. Zweitens soll unser Verhalten ein Zeugnis für die uns umgebende Welt sein. Das Haus Gottes – die Versammlung als seine Wohnstätte – ist bis heute Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit.
In seinem ersten Brief spricht Paulus von diesem Haus Gottes. Es gab Einzelne, die bezüglich ihres Glaubens Schiffbruch erlitten hatten (Kap. 1,19). Ein großer Teil der Gläubigen ging allerdings den Weg mit dem Herrn. Dennoch warnt Paulus davor, dass falsche Lehrer kommen würden, um den Gläubigen zu schaden. Darüber spricht er ausführlicher in seinem zweiten Brief, der etwa drei Jahre nach dem ersten Brief geschrieben worden ist. Dieser Brief erwähnt nicht mehr das „Haus Gottes“ (das natürlich immer noch existiert), sondern spricht von einem „großen Haus“ (Kap. 2,20). Das Thema im zweiten Brief ist Verfall und Niedergang. Viele, die sich zu Christus bekennen, sind kaum noch als echte Christen zu erkennen. Es sind nur Wenige, die dem Herrn in Treue folgen und Ihm dienen. Doch bleiben beide Seiten wahr: Die Versammlung ist immer noch das „Haus Gottes“ und „Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim 3,15), d. h., die Wahrheit ist nur in der Versammlung zu finden. Gleichzeitig gibt es Verfall und Niedergang.[1]