Die Tyrannei des Geldes. Hans Peter Treichler
Читать онлайн книгу.Heimatstadt. Nirgends anders als hier werde «das Buch des Fortschritts und des Rechts geschrieben», meldet das Tagebuch, «das Buch der weltweiten Zivilisation».
Kaufen und Verkaufen, Markten und Feilschen ... Der Strassenhändler mit seinem Bauchladen voller Bänder, Seifen und Knöpfe verkörpert das Genf der zweiten Jahrhunderthälfte, die dem Handel rasant wachsende Umsätze bringt. Es entsteht eine florierende Börse, und die Zahl der Banken steigt steil an.
KAPITEL 3
Der Literat und das Geld oder
La tyrannie de l’écu
Je constate mon défaut croissant de goût pour tout ce qui est finances, placement, comptabilité, etc. J’aime l’ordre, mais je ne puis souffrir les basses œuvres par lesquelles il s’effectue. Je suis heureux qu’on abatte les chiens malades, mais je ne saurais faire le valet de ville.
Ich stelle meine wachsende Abneigung gegen alles fest, was mit Finanzen, Investitionen, Buchhaltung und so weiter zu tun hat. Ich liebe die Ordnung, aber ich ertrage die erniedrigende Arbeit nicht, mit der sie erstellt wird. Ich bin froh, dass jemand die tollwütigen Hunde abtut, aber ich könnte nicht Abdecker sein.
Selber bezeichnete sich Amiel mit Vorliebe als lettré, homme de lettres, seltener als savant, Letzteres mit deutlichen Abstrichen. Denn gehörte zum Intellektuellen, zum Literaten nicht gerade, dass er ständig auf der Suche blieb? Dass er auch als Dozent auf dem Katheder die Frage nach der Erkenntnis vermittelte und nicht die Erkenntnis selbst? Nicht von ungefähr dominierte in Amiels Gedichten, im Penseroso oder in La Part du rêve, das Ungelöste, der offene Schluss. Zahlreiche Verszeilen münden in eine Frage, manchmal mehrere Male pro Strophe:
Suis-je une femme enfin ou suis-je une statue?
Seule, pourquoi faut-il que le désir me tue?
Stellvertretend für die Gesellschaft blieb der homme de lettres offen für Fragen und mögliche Antworten. Er suchte neue Wege in der Welt des Geistes und neue Furten durch die Strömungen der aktuellen Philosophie – anders als der Geistliche, der sonntags von der Kanzel die Gewissheiten des protestantischen Kanons verkündete. Aber was Amiel im Haushalt von Schwager Franki Guillermet täglich vor Augen geführt bekam: Die Genfer Kirche bot mehreren Dutzend Pfarrern ein anständiges Auskommen, eine behagliche Existenz im gutbürgerlichen Rahmen. Welche Möglichkeiten blieben dagegen dem Intellektuellen, der sich genauso wie Franki als Diener des Wortes sah, nur in einem weiter gesteckten Rahmen? Der Lehrstuhl an der Académie, den der junge Amiel mit so grossen Hoffnungen übernommen hatte, erwies sich immer deutlicher als harter und ungepolsterter Sessel. Es gab zahlreiche Verpflichtungen neben den eigentlichen Vorlesungen, Sitzungen über Lehrpläne, Examen und Ernennungen; beim Institut national genevois blieb das Sekretariat der Abteilung Literatur an Amiel hängen. Keine dieser Aufgaben wurde entschädigt. Es blieben einzig das Jahresgehalt für die Professur und der Anteil an den Semestergeldern, das verhasste casuel. Denn diese Sporteln waren völlig ungewiss und hingen ab von der Anzahl eingeschriebener Studenten; diese wiederum schwankte je nach Attraktivität des Kursthemas. Oft kam zum jährlichen Grundgehalt von 2000 Francs nur ein lächerliches Trinkgeld hinzu. «Mon casuel académique du semestre d’hiver est réduit à rien», notiert das Tagebuch mehr als einmal.
Kurz: Wie Genf die Dozenten seiner Académie bezahlte, war eine Schande, une vergogne. «Es reicht gerade für den Ankauf der nötigen Bücher und die Kosten einer Ferienreise.» Die meisten seiner Kollegen, so musste Amiel feststellen, behandelten diese Einkünfte – Gehalt wie Sporteln – als schlechten Witz. Aber dem Unglücklichen, der sein Budget auf diese Beträge stützen musste, waren sie eine trübe Quelle von Kummer und Enttäuschung: un nid à chagrins et une boîte de déceptions ... Gehörte es denn nicht zu den Aufgaben des Staates, seinen Vordenkern einen bescheidenen Wohlstand zu garantieren? Aber nein, für einen kleinen Beamteten der Hochehrwürdigen Republik, Sérénissime République, stellte noch der bescheidenste gesellige Anlass eine unverantwortliche Ausschweifung dar. Amiel bekam das einmal mehr zu spüren, als er im Februar 1867 ein paar Kollegen und Freunde zu einem kleinen Souper einlud und dann die Rechnung überreicht erhielt. «Jedes Glas Wein stellt die Balance auf den Kopf!», klagt das Tagebuch. «Es ist beschämend, daran zu denken. Fünfzehn Gäste stellen, so scheint es, einen ungeheuren Luxus dar für einen Professor, der kein Kapitalist ist. Nur schon eine einzige solche Einladung im Monat würde mehr als die Hälfte meiner mageren Einkünfte verschlingen.»
Wie kam es, dass nur in einem einzigen Beruf die Löhne stagnierten, und zwar bei der «ehrenhaftesten aller Beschäftigungen», nämlich der des Unterrichtens? So wie der Intellektuelle von heute, der seinen Stundenlohn bestürzt mit dem des Garagisten oder Heizungsinstallateurs vergleicht, verwarf Amiel die Hände: «Der kleinste Kommis, der schäbigste Zahnbrecher verdient mehr.» Nein, es lag auf der Hand: Unterrichten, Dozieren war ein Beruf für Gimpel. Wer ihn ergriff, wurde vom Staat über den Tisch gezogen. Noch nicht einmal eine bescheidene Rente für die alten Tage schaute heraus! «Was wird man in diesem métier (...) doch übers Ohr gehauen! Ein Leben lang für Nussschalen schuften! (...) Wenn ich daran denke, bewahre ich nur mit Mühe die Ruhe. Die Republik bestiehlt ihre Diener, und das Schicksal spielt den Geistesarbeitern übel mit.» Denn zur Freiheit des Wortes und des Gedankens gehörte notwendigerweise die Freiheit von den Sorgen des Alltags. Und die stellte das Gehalt der Académie nicht einmal für einen Junggesellen sicher, geschweige denn für eine Familie, die ein verwegener Springinsfeld allenfalls zu gründen wagte.
La gêne, die Bedürftigkeit. Alle Einträge Amiels bezeugen es: Der ärgste Feind des Geistesarbeiters war nicht die nackte Armut. Die Armut stellte die Betroffenen vor ein Entweder-oder, stellte eine existenzielle Herausforderung dar: Man rappelte sich hoch, oder man endete in der Gosse. Was den jungen oder älteren Professor, was den Redaktor oder Künstler lähmte, das war die tägliche Rechnerei, das Schielen auf das Haushaltbuch und den monatlichen Abschluss. Amiels Tagebuch findet vielerlei Ausdrücke dafür: Rappenspalterei, la préoccupation du centime, das unübersetzbare boursicotage, das Scharwenzeln rund um die Geldbörse. Vor allem aber: la gêne, die Bedürftigkeit, die Bedrängnis, die Klemme. Wer als geistig Schaffender, als Literat in dieser Klemme sass, war verloren, war unfrei, auch wenn er sich freier Künstler nannte. «Die Freiheit wird zur Knechtschaft, wenn sie andauernd gegen die Bedürftigkeit kämpfen muss», heisst es im Journal intime vom März 1866. «Diese ängstliche Sorge um jeden Rappen, diese zwanghafte und erzwungene Sparsamkeit – was ist sie, wenn nicht erniedrigendste Sklaverei?»
Amiel notierte diese Überlegungen nach einer Diskussion mit Tante Julie. Julie Brandt, eigentlich eine Cousine seiner Mutter, war 17 Jahre älter als er und als Romantikerin aufgewachsen, mit Idealen, die Amiel eher einer Romanze des Biedermeier zuordnete als der Wirklichkeit. Julie lebte in einer Welt, in der sich das Glück noch in der ärmlichsten Hütte fand und wo mausarme Liebende Liedchen wie L’Amour avec l’eau claire trällerten. «Sie versteht nichts von den Bedürfnissen des heutigen Lebens, so als hätte sie wie Epimenides vierzig Jahre in einer Höhle verschlafen.» Was sollte er mit den Ratschlägen einer romantischen alten Jungfer anfangen? In ihrer Naivität rührten und ärgerten sie ihn zugleich.
Wo Tante Julie recht hatte: Der lettré, auch der Künstler, lebte in einer Welt des Geistes und bezog aus ihr seine Würde und seinen Trost. Aber wie lange hielten Würde und Trost vor für den Literaten in seiner Dachkammer, den Maler im zugigen Atelier? Auf die Dauer mussten beide an den Kleinlichkeiten des Alltags scheitern. «Die Bedürftigkeit», heisst es kurz später im Tagebuch, «ist letztlich noch schlimmer als die Einsamkeit, da sie unfehlbar das intellektuelle Leben abtötet.» Denn das geistige Leben, der Gestaltungsdrang des Künstlers gingen von der Prämisse aus, dass es keine Grenzen gab – für die Wissbegierde, für die Welt der Formen, Klänge und Farben. Wer aber täglich seine Francs und Centimes umdrehen musste, wurde auf Schritt und Tritt ans Limit erinnert, an Schranken und Beschränkung. «Geld zählen heisst eine Grenze ziehen», notiert Amiel,