Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner. Морис Леблан
Читать онлайн книгу.heißt er noch nicht Arsène Lupin, sondern Arsène Lopin; das war der Name eines Stadtrats von Paris, der mit der Regierung im Streit lag. Lopin erhebt Einspruch, und Maurice Leblanc ändert den Namen seines Helden.
Die Gestalt Arsène Lupins drängt sich sofort auf.
Er ist Sherlock Holmes und Raffles so unähnlich wie nur möglich. Jeden Monat (Je sais tout ist eine Monatszeitschrift) erlebt Arsène Lupin Abenteuer, in denen sich die Vorgänge nicht auf Zigarettenstummel oder Fußspuren stützen und deren Geheimnis nicht von schweren, verbrecherischen Stimmungen erzeugt wird.
Ganz im Gegenteil, alles im Leben Arsène Lupins ist klar, heiter, optimistisch. Man weiß sofort, dass, wenn es sich um ein Verschwinden oder einen Diebstahl handelt, der Schuldige Arsène Lupin ist.
Er ist lebhaft, verwegen, unverschämt und führt den Kommissar (der hier gelegentlich Inspektor Ganimard heißt) unentwegt an der Nase herum, er bezaubert und hat die Lacher auf seiner Seite, er macht sich über die Situationen, in denen er sich befindet, lustig, macht die satten Bürger lächerlich und hilft den Schwachen; Arsène Lupin, der Gentleman-Einbrecher, ist ein Freischütz der »Belle Epoque«.
Ein sehr französischer Freischütz: Er nimmt sich nicht sehr ernst, seine tödlichsten Waffen sind seine witzigen Einfälle; er ist kein Aristokrat, der wie ein Anarchist lebt, sondern ein Anarchist, der wie ein Aristokrat lebt; er ist nie feierlich, immer spöttisch, er schenkt sein Herz nicht der Dame seines Lebens – sondern den Damen seiner Leben. So wurde er schließlich während langer Abende im Theater von André Brulé verkörpert, und vierzig Jahre später spielt ihn Robert Lamoureux auf der Leinwand.
Nach einem halben Jahrhundert ist Arsène Lupin noch nicht gealtert. Er wird nie altern trotz seines Zylinders, seines Umhangs und seines Monokels.
Die Leute meines Alters sprechen unter sich von Arsène Lupin wie von einem Helden ihrer Familie, sodass der geringste Irrtum des Gedächtnisses bezüglich seiner Abenteuer eine Unschicklichkeit ist.
Aber seit einiger Zeit haben die jungen Leute aus der Generation unserer Söhne dasselbe heiße Interesse an diesem alten Freund ihrer Eltern, der für sie das Alter von Ivanhoe, Mouron rouge oder Fantomas hat, das Alter, in dem die eingebildeten Helden unsterblich werden.
Pierre Lazareff
DIE VERHAFTUNG DES ARSÈNE LUPIN
Es war eine seltsame Reise! Dabei hatte sie so vielversprechend begonnen. Ich für meinen Teil habe niemals eine Reise unter glücklicheren Vorzeichen angetreten. Die »Provence« ist ein schneller Überseedampfer, behaglich und unter dem Kommando des freundlichsten aller Menschen. Die Elite der Gesellschaft war hier vereint. Beziehungen wurden angeknüpft, und es gab mancherlei Vergnügungen. Wir hatten jenen einmaligen Eindruck, wie auf einer einsamen Insel von der Welt getrennt, auf uns allein angewiesen und daher verpflichtet zu sein, uns einander zu nähern.
Und wir kamen uns näher.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie eigentümlich und köstlich so eine zusammengewürfelte Gruppe von Menschen sein kann, die sich eben erst kennengelernt haben und die nun während einiger Tage zwischen dem unendlichen Himmel und dem gewaltigen Meer auf engstem Raum miteinander leben und dem Wüten des Ozeans, dem erschreckenden Ansturm der Wellen und der heimtückischen Ruhe des schlafenden Wassers trotzen müssen?
Im Grunde ist dieses das Leben selbst, das wie in einem Bühnenstück seine Gewitter und seinen Sonnenschein, seine Monotonie und seine Vielfalt ausspielt, und vielleicht erlebt man deswegen solch eine kurze Reise mit fieberhafter Hast und umso heftigerem Genuss, weil man zu dem Zeitpunkt, da sie beginnt, schon ihr Ende voraussieht.
Hinzu kommt, dass die Überfahrt seit einigen Jahren noch aufregender geworden ist. Die kleine schwimmende Insel ist ständig mit jener Welt verbunden, von der man sich befreit glaubte. Das Band löst sich inmitten des Ozeans nach und nach auf, um bald wieder neu geknüpft zu werden. Die drahtlose Telegrafie! Wie aus luftleerem Raum kommen die Nachrichten auf geheimnisvollste Weise. Man hat keine Möglichkeit mehr, sich die leeren Drähte vorzustellen, durch die die unsichtbare Botschaft geschickt wird. Das Geheimnis ist viel unergründlicher, aber auch poetischer, und man muss an die Flügel des Windes denken, wenn man dieses neue Wunder erlebt.
So fühlten wir uns in den ersten Stunden verfolgt, bewacht, ja in den Fängen dieser fernen Stimme, die von Zeit zu Zeit einem von uns einige Worte von jenseits zuflüsterte. Zwei Freunde sprachen mit mir. Zehn, zwanzig andere sandten uns allen ihre betrübten oder lächelnden Abschiedsworte durch den Äther nach.
Am zweiten Tag, einem gewittrigen Nachmittag, funkte uns die drahtlose Telegrafie fünfhundert Meilen von der französischen Küste entfernt eine Depesche mit folgendem Inhalt: »Arsène Lupin an Bord, erste Klasse, blondes Haar, Verletzung am rechten Unterarm, reist allein, unter dem Namen R…«. Gerade in diesem Augenblick krachte ein heftiger Donnerschlag aus dem finsteren Himmel. Die elektrischen Wellen wurden unterbrochen. Der Rest der Depesche erreichte uns nicht. Von dem Namen, unter dem sich Arsène Lupin verbarg, wusste man nur den Anfangsbuchstaben.
Ich bin sicher, dass jede andere Nachricht von den Funkern, dem Schiffskommissar und dem Kommandanten des Schiffes wohlbehütet und geheim gehalten worden wäre. Aber es gibt Ereignisse, denen die strengste Diskretion nicht gewachsen ist. Am selben Tag noch wussten wir alle, ohne dass man hätte sagen können, wie die Sache ruchbar geworden war, dass der berühmte Arsène Lupin sich unter uns versteckt hielt.
Arsène Lupin unter uns! Der Einbrecher, der nicht zu fangen ist, über dessen Heldentaten alle Zeitungen seit Monaten berichten! Jene rätselhafte Persönlichkeit, mit der der alte Ganimard, unser bester Polizeibeamter, jenes Duell auf Leben und Tod begonnen hatte, dessen unerwartete Geschehnisse sich so abenteuerlich abspielten! Arsène Lupin, der einfallsreiche Gentleman, der nur in Schlössern und Salons »arbeitet« und der eines Nachts, als er in das Haus von Baron Schormann eingestiegen, mit leeren Händen wieder gegangen war und nur eine Karte mit folgenden Worten zurückgelassen hatte: »Arsène Lupin, der Gentleman-Einbrecher, wird wiederkommen, wenn die Möbel echt sind.« Arsène Lupin, der Mann mit den tausend Verkleidungen, der schon als Chauffeur, Tenor, Buchhändler, Sohn der Familie, Jüngling, Greis, Handlungsreisender aus Marseille, russischer Arzt oder als spanischer Torero aufgetreten war!
Man bedenke: Arsène Lupin spazierte auf dem verhältnismäßig begrenzten Raum eines Überseedampfers – was sage ich! –, in diesem kleinen Winkel der ersten Klasse, wo man sich immerfort begegnete, im Speisesaal, im Salon, im Rauchzimmer herum! Arsène Lupin! Vielleicht ist es dieser Herr … oder jener dort … mein Tischnachbar … mein Kabinengefährte …
»Und das soll noch fünfmal vierundzwanzig Stunden dauern!«, rief am nächsten Tag Miss Nelly Underdown. »Das ist ja unerträglich! Ich hoffe doch, dass man ihn verhaftet.«
Und sich mir zuwendend:
»Sie, Herr d’Andrézy, Sie sind doch schon so gut mit dem Kommandanten bekannt, wissen Sie denn gar nichts?« Ich hätte gerne etwas gewusst, um Miss Nelly zu gefallen. Sie war eines dieser prächtigen Geschöpfe, die überall, wo sie erscheinen, der Mittelpunkt der Gesellschaft sind. Ihre Schönheit blendet ebenso wie ihr Reichtum. Sie haben ein Gefolge, glühende Anbeter und Schwärmer.
Sie war in Paris bei ihrer französischen Mutter aufgewachsen und fuhr nun zu ihrem Vater, dem überaus reichen Herrn Underdown in Chicago. Lady Jerland, eine ihrer Freundinnen, begleitete sie.
Schon beim ersten Anblick hatte ich den Wunsch, mit ihr zu flirten. Aber durch die so rasch um sich greifende Intimität aller Reisegefährten hatte mich ihr Charme sofort verwirrt, und wenn ihre großen schwarzen Augen meinem Blick begegneten, war ich für einen Flirt einfach zu aufgeregt. Sie nahm meine Huldigungen mit einer gewissen Gunst auf und ließ sich herab, über meine Witze zu lachen und sich für meine Anekdoten zu interessieren. Ein Hauch von Sympathie schien die Belohnung für meinen Eifer zu sein.
Ein einziger Rivale hätte mich vielleicht beunruhigen können; ein ziemlich hübscher Junge, elegant und zurückhaltend, dessen schweigsames Wesen sie manchmal meiner etwas zu offenen Pariser Art vorzuziehen