Genderlinguistik. Helga Kotthoff

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Genderlinguistik - Helga Kotthoff


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Genitiv und Dativ im Singular (Tab. 4-1).

      

Diese Kasusausdrucksdefizite beklagt Pusch (2011, 98ff.), da diese Synkretismen das Schreiben über Frauen, die mit anderen Frauen interagieren, erheblich behindern. Sie verursachen Ambiguitäten, die sich nur mit stilistisch aufwändigen, hölzern wirkenden Verfahren umschiffen lassen. Ein Beispiel ist der doppeldeutige Satz Niemand kannte sie so gut wie sie, während bei zwei (ebenfalls vorgenannten) Männern die Kasusdistinktion und damit Bezugnahme funktioniert: Niemand kannte er so gut wie ihn bzw. Niemand kannte ihn so gut wie er. Beim femininen Satz bleibe aber „völlig im Dunkeln, welche der beiden ‚sie‘ die andere so gut kennt. Ich könnte Bände erzählen über diese Problematik, die sich erst dann im vollen Maße auftut, wenn wir über Frauen schreiben wollen“ (100). Abhilfe lasse sich nur „mit dem hässlichen diese“ schaffen.

Singular Plural
Kasus Artikel gem. Dekl. (fast alle Fem.) st. Dekl. (noch 35) Artikel gem. Dekl. st. Dekl.
Nom. die Frau Tante Braut die Frauen Tanten Bräute(n Dat.)
Gen. der der
Dat. der den
Akk. die die

      Tab. 4-1: Die Deklination gemischter (gem.) und starker (st.) Feminina

      Diese gemischte Klasse wird immer größer und hat schon fast alle Mitglieder der anderen Femininklasse, der sog. starken Klasse, übernommen, die sich – bis auf den Dat. Pl. – ebenfalls keinerlei Kasusdistinktion leistet und den Plural mit Umlaut & -e bildet: die BrautBraut / der BrautBraut / die Bräute (gegenwärtige Klassenwechsler sind Gruft und Flucht, die den Plural neben Grüfte, Flüchte auch schon mit Gruften, Fluchten bilden). Unter den noch verbleibenden ca. 35 starken Feminina befinden sich nicht viele Lebewesen, auch erfolgt die Räumung dieser Klasse nicht belebtheitsgesteuert (Köpcke 2000a, 2000b, 2002). Der Faktor Belebtheit – man unterscheidet hier grob zwischen MENSCHLICH > BELEBT > UNBELEBT – spielt bei den femininen Klassen überhaupt keine Rolle1 – im Gegensatz zu den maskulinen Klassen.

      4.2.2 Starke Maskulina

      Eine andere Klasse bilden die starken Maskulina und Neutra mit s-Genitiv und e-Plural. Dabei lauten die Neutra niemals um, die Maskulina unter bestimmten Bedingungen, die viel mit Belebtheit zu tun haben. Dies ist eine junge Entwicklung, denn diese Maskulina speisen sich aus ursprünglich zwei Klassen im Ahd. (die Neutra traten erst später bei).1 Bei den Maskulina hat anschließend (seit dem Mhd.) eine Umsortierung nach Belebtheit stattgefunden: Maskulina mit menschlichem bzw. belebtem Denotat (Ärzte, Äbte, Generäle, Füchse, Frösche, Wölfe) haben eine ungleich höhere Wahrscheinlichkeit umzulauten als solche mit unbelebtem Denotat (Tage, Farne, Gutturale, Busse, Monde, Dolche). Doppeldeutiges Bund zeigt schön, dass zur Bezeichnung von Menschengruppen (Geheimbünde, Staatenbünde) Umlaut eintritt, nicht aber von Objektbezeichnungen (Schlüsselbunde). Köpcke (1994) hat von allen einsilbigen Maskulina dieser Klasse (940 Types) die umlautfähigen (400) herausgegriffen (d.h. solche mit a, o, u oder au als Wurzelvokal), um zu erfahren, ob und wann Umlaut ausgelöst wird. Von diesen 400 lauten 48 % um. Dabei steuert eine sog. „anthropozentrische Weltsicht“Anthropozentrismus (ebd., 83) das Umlautverhalten: Menschen(gruppen) lauten zu 79 % um (Ärzte, Päpste, Köche), Säugetiere zu 66 % (Füchse, Wölfe), Vögel zu 44 % (Hähne, Käuze), Fische, Reptilien, Amphibien und Insekten nur zu 14 % (Frösche) und Pflanzen (Bäume) zu 9 %. Mit der Nähe zum Menschen nimmt also der Pluralumlaut zu. Da Frauen unter den Maskulina nicht vorkommen, kann man auch sagen: Mit der Nähe zum Mann nimmt der Pluralumlaut zu, es liegt weniger eine anthropozentrische als eine androzentrische WeltsichtAndrozentrismus vor. Die seltenen (ca. 35) Feminina mit Umlaut im Plural spezialisieren sich nicht auf Frauen (sondern auf rein phonologische Merkmale des Nomens, Köpcke 2000b, 158f.; Nübling 2008, 304).

      Interessanterweise befinden sich unter den 21 % der nicht-umlautenden Menschen- bzw. Männerbezeichnungen solche, die negative oder nicht ernstzunehmende Gestalten bezeichnen: Schufte, Strolche, Protze, Prolle, Schalke, Trolle, Faune. ‚Ehrenhafte‘, d.h. sozial anerkannte und einflussreiche, handlungsmächtige (agentive) Männer wurden dagegen im Laufe der Sprachgeschichte durch analogischen Umlaut erhöht (SalienzzuwachsSalienz): Päpste, Äbte, Ärzte, Pröbste, Vögte, Köche, Räte (Klein 2017, demn.).

      

Dies zeigt: Belebtheit, Geschlecht, soziales PrestigePrestige und Handlungsmacht sind Humankategorien, die tief in die Organisation von Flexionssystemen diffundiert sind und tagtäglich so häufig wie subtil reaktiviert werden. Deklinationsklassen erweisen sich als Speicher sozialer Verhältnisse (dabei durchaus historischer, siehe die an der sozialen Spitze stehende Geistlichkeit) und gleichzeitig als wirkungsvolle Reproduzenten derselben. Wahrscheinlich haben die Neutra an dieser Umlautklasse deswegen keinen Anteil, weil Neutra fast keine Lebewesen bzw., noch konsequenter, keine Männer bezeichnen. Darauf kommen wir in Kap. 4.2.6 ausführlich zurück.

      4.2.3 Schwache Maskulina

      Genderlinguistisch ebenfalls aussagekräftig ist die Klasse der sog. schwachen Maskulina. Diese umfasste ursprünglich (im Ahd. und Mhd.) zahlreiche Maskulina unterschiedlichster Bedeutung. Sie bilden alle Formen des Paradigmas mit -(e)n außer dem Nominativ Singular: der MenschMensch/des MenschenMensch/die MenschenMensch, der Kunde/des Kunden/die Kunden. Der stabilste Prototyp, der sogar noch Neuzuwächse erfährt (z.B. durch Partizipien wie der Angestellte, Behinderte, Arbeitslose), besteht aus drei- oder zweisilbigen Nominativen auf -e mit Betonung der vorletzten Silbe, also (x)X-e (Typ Matróse, Gesélle, Bóte, Schimpánse, Áffe), wobei speziell Männerlexeme die Stabilität und Produktivität maximieren. Ursprünglich war die Klasse semantisch bunt gemischt, s. mhd. der brunne, balke, schade, schwane, storche, mensche, s(ch)lange etc. Erst später hat sie sich auf männliche Lebewesen spezialisiert – und sich nach und nach der unbelebten, später auch der schwach belebten Mitglieder entledigt (Köpcke 1993, 1995). Für die unbelebten Maskulina (Objekte und Abstrakta) wurde sogar eine eigene (starke) Deklinationsklasse geschaffen: Deren Mitglieder haben auch im Nom.Sg. ein festes -n angenommen und im Gen.Sg. ein -s, womit der Plural formal mit dem Singular identisch ist (s. der Brunnen / des Brunnens / die Brunnen), wenn nicht sekundär-analogisch ein morphologischer Umlaut angenommen wurde (der Schaden / des Schadens / die Schäden). Damit wird bei den unbelebten Maskulina bis


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