Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute. Elisabeth Schulze-Witzenrath
Читать онлайн книгу.fuit volontiers tous les détails dont le roman se régale. L’âme lyrique fait des enjambées vastes comme des synthèses; l’esprit du romancier se délecte dans l’analyse.43
Die hier vermerkten „Sprünge“ der lyrischen Seele sind nichts anderes als das Ausmessen der „profondeur de la vie“ im enthusiastischen Zustand und die „Synthese“ ist das universale Einheitserlebnis des Lyrikers. Der Romancier hingegen lebt seine Lust am Fabulieren in der „Analyse“ aus, wozu er nach Balzac der genauen und umfassenden Beobachtung der Menschen und ihrer Gewohnheiten im konkreten Umfeld bedarf, die auch die Identifikation mit ihnen einschließen kann44.
In den beiden folgenden Abschnitten von Les Foules wird die ekstatische Steigerung des dichterischen Lebensgefühls in der Menschenmenge gefeiert. Baudelaire steigert dabei die gewohnten Ausdrücke durch zusätzliche Adjektive – „des jouissances fiévreuses“, „une singulière ivresse“, „mystérieuses ivresses“ – und hebt ihre Einzigartigkeit durch Vergleiche hervor („dont seront éternellement privé l’égoïste, fermé comme un coffre, et le paresseux, interné comme un mollusque“). Die Bereitschaft und die Begeisterung, mit der sich der Dichter der Menge hingibt, und seine ekstatische Selbstentäußerung im Anderen veranschaulicht er durch erotisch-sexuelle, familiäre, ja religiös konnotierte Metaphern wie die einer „universelle communion“ mit der Menge, die an die Forderung des Erzählers im Mangeur d’opium erinnert, dass ein „Philosoph“ im Umgang mit den Anderen „un être vraiment catholique“ sein müsse:
[…] le philosophe ne doit pas voir avec les yeux de cette pauvre créature bornée qui s’intitule elle-même l’homme du monde, remplie de préjugés étroits et egoïstiques, mais doit au contraire se regarder comme un être vraiment catholique, en communion et relation égales avec tout ce qui est en haut et tout ce qui est en bas, avec les gens instruits et les gens non éduqués, avec les coupables comme avec les innocents.45
Um die folgenden Metaphern „cette ineffable orgie“ und „cette sainte prostitution“ zu verstehen, muss man wissen, dass für Baudelaire Liebe und Kunst gleichermaßen auf der „prostitution“ gründen:
L’amour, c’est le goût de la prostitution. Il n’est même pas de plaisir noble qui ne puisse être ramené à la Prostitution.
[…]
Qu’est-ce que l’art? Prostitution.46
„Prostitution“ ist als Hingabe an den Anderen sogar ein „sentiment généreux“:
L’amour peut dériver d’un sentiment généreux: le goût de la prostitution; mais il est bientôt corrompu par le goût de la propriété.47
Das erklärt ihre Aufwertung in dem Satz: „Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible comparé à cette ineffable orgie, à cette sainte prostitution de l’âme […].“ Wegen seiner unerschöpflichen Liebe zu jeder Kreatur spricht Baudelaire die Prostitution sogar Gott zu:
L’être le plus prostitué, c’est l’être par excellence, c’est Dieu, puisqu’il est l’ami suprême pour chaque individu, puisqu’il est le réservoir commun, inépuisable de l’amour.48
In der Kunst ist Prostitution von besonderer Art, weil der „homme de génie“ nicht sein Ich „im Fleische“ vergessen will wie der gewöhnliche Mensch:
Goût invincible de la prostitution dans le cœur de l’homme, d’où naît son horreur de la solitude. – Il veut être deux. L’homme de génie veut être un, donc solitaire.
La gloire, c’est rester un, et se prostituer d’une manière particulière.
C’est cette horreur de la solitude, le besoin d’oublier son moi dans la chair extérieure, que l’homme appelle noblement besoin d’aimer.49
Vielmehr geht es ihm trotz Selbstentäußerung und Hingabe an den Anderen darum, sich selbst zu bewahren: „La gloire, c’est rester un […].“50 Die Selbstentäußerung kann vor allem dem Dichter zum Problem werden51, weil sie bei ihm stärker ist als bei anderen Künstlern. In Les Foules scheint die Balance zwischen Hingabe und Selbstbewahrung aber zu gelingen, denn der Dichter kann sich frei zwischen „moi“ und „non-moi“ entscheiden: „Le poète […] peut à sa guise être lui-même et autrui“, und seine Hingabe hat den Charakter der geistlich-philanthropischen caritas und der „charité“ des „mangeur d’opium“: „[…] l’âme se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe“. „Poésie“ dürfte dann für die „concentration productive“ des Dichters stehen52.
Im vierten Abschnitt wird mit der Wendung „Le promeneur solitaire et pensif“ innerhalb weniger Zeilen ein zweites Mal auf Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire Bezug genommen, deren Beschreibungen ekstatischer Zustände und ihres Zustandekommens Baudelaire offensichtlich sehr beeindruckt haben. Zeitweise trug er sich sogar mit dem Gedanken, seiner Sammlung von Prosagedichten den Titel Le Promeneur solitaire zu geben53. In beiden Fällen hat er allerdings den Ausdruck „rêverie“ vermieden, der ihm möglicherweise zu sehr auf die Naturekstase festgelegt schien. Die Formulierung „Le promeneur solitaire et pensif“ bewahrt dennoch das Wesentliche des Rousseauschen Titels durch ihren Zusatz „et pensif“, der die Rousseausche rêverie und dazu Baudelaires eigene Vorstellung der „imagination active“ abdeckt. Die Wendung „solitaire et pensif“ zitiert zudem die Formel, mit der in der europäischen Lyrik jahrhundertelang die Themen Natureinsamkeit, Liebe und Melancholie angesagt wurden. Ausgehend von Francesco Petrarcas Sonett „Solo e pensoso …“ (Rime XXXV) bezeichnet das Adjektiv „pensoso“ bzw. „pensif“ darin die Haltung des grübelnden Melancholikers in der Natureinsamkeit, die vor allem seit dem Wiederaufleben der Säfte- und Temperamentenlehre in der Renaissance zu einem festen Bestandteil der Selbstdarstellung des Lyrikers geworden war54. Auch Baudelaire hat sich in dieser Tradition als Melancholiker verstanden und stilisiert, ja er hat die melancholische Seelenlage als poetische Inspirationsquelle verstanden und gegebenenfalls künstlich erzeugt55. Mit der Wendung vom „promeneur solitaire et pensif“56 propagiert er die melancholische Haltung auch für das poetische Erlebnis der großstädtischen Menschenmenge – mit Recht, da der Dichter, der alles annimmt, was ihm der Zufall beschert, in den „professions“, „joies“ und „misères“ der Großstadt zahlreiche Anlässe für eine melancholisch gegründete Inspiration findet. Damit tritt die Großstadt die Nachfolge der traditionellen melancholischen Inspirationsquellen Liebesunglück und Natureinsamkeit an und die Großstadtdichtung wird in der Lyriktradition verortet.
Der letzte Abschnitt von Les Foules handelt von weiteren Menschenmengen, genauer von Anderen, die ebenfalls im Umgang mit Menschenmengen ein Glück finden, von dem die „heureux de ce monde“ in ihrem törichten Stolz keine Vorstellung haben: von den „fondateurs de colonies“, den „pasteurs de peuples“ und den „prêtres missionaires exilés au bout du monde“. Sie alle erleben, wenn sie Menschen in ein Land führen, ihnen einen Glauben oder eine politische Überzeugung vermitteln, ähnliche Ekstasen wie der Dichter („connaissent sans doute quelque chose de ces mystérieuses ivresses“) und lachen im Glück ihrer Vereinigung mit der Menge über jene, die sie wegen ihres beschwerlichen und entsagungsvollen Lebens bedauern57.
Mit der Entdeckung der ekstatischen „multiplication de l’individualité“ in der Menschenmenge, wie sie in den Journaux intimes festgehalten ist, hatte Baudelaire einen wichtigen Schritt zum poetischen Großstadterlebnis getan, auch wenn der Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Erlebnis der Menge und demjenigen des Dichters, wie es in Les Foules gepriesen wird, unübersehbar ist. Erst im poetischen Enthusiasmus, wenn der Dichter sich die Freuden und Leiden aneignet, die ihm in der Großstadt begegnen, kommt es zur Ich-erweiternden ‚Fremderfahrung‘ und zu einem vertieften Einheitserlebnis, das sein „sentiment de l’existence“ auf beglückende Weise steigert und ihm hilft „à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis.“58 Tatsächlich hat Baudelaire sich in den Großstadtgedichten nur an Individuen und Menschengruppen inspiriert, die seinen persönlichen Vorstellungen vom Schönen entsprachen, an den Kranken und Sterbenden