Argumentation. Kati Hannken-Illjes

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Argumentation - Kati Hannken-Illjes


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10: Glauben Sie dem Jungen ein Wort?

      JUROR 8: Ich weiß nicht, ob ich ihm glaube. Vielleicht glaube ich ihm nicht.

      JUROR 7: Dann verstehe ich noch weniger, warum Sie für „nicht schuldig“ gestimmt haben!

      JUROR 8: Elf haben ihn schuldig gesprochen. Ich kann nicht so einfach meine Hand heben und jemanden in den Tod schicken. Ich muß erst darüber sprechen.

      Juror 8 will nicht einfach nur sprechen: Er fordert Gründe ein und will selber Gründe liefern, um die Frage „Ist der Junge schuldig“, in dieser Sequenz gefasst als „Glauben Sie dem Jungen ein Wort?“, zu beantworten. Dabei ist sein Ziel nicht, die anderen von der Unschuld des Jungen zu überzeugen; zur übergreifenden StreitfrageStreitfrage („Ist der Junge schuldig“) formuliert er selbst keinen eigenen StandpunktStandpunkt (keine eigene Konklusion). Zu Argumentieren – und wenn nur für eine Stunde – hat hier die Funktion, eine Entscheidung, die getroffen werden muss, zu einer fundierten, argumentativ gesicherten Entscheidung zu machen. Es geht hier (auch) um die Legitimation einer Entscheidung.

      Argumentation wird in vielen theoretischen Ansätzen über ihre Funktion gefasst. Dabei lassen sich, wie oben eingeführt, zwei Funktionen von Argumentation unterscheiden: die Bearbeitung von DissensDissens oder StrittigkeitStrittigkeit und die Funktion der Geltungsetablierung. Diese Funktionen schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander und sind eng gekoppelt. Die epistemischeArgumentationepistemische Funktion Funktion, die Funktion Geltung zu etablieren, ist oben schon kurz beleuchtet worden. Sie betrifft vor allem den „Übergang“, die Herstellung von RelevanzRelevanz zwischen Grund und Konklusion, von der die Sprecherin annimmt, dass sie vom Gegenüber geteilt wird. Diese Funktion findet sich in der Argumentationstheorie vor allem unter den Überschriften TopikTopik und ArgumentationsschemataArgumentationsschema wieder (vgl. Kapitel 4.3). Die Funktion der Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit soll hier noch einmal genauer betrachtet werden, da sie selbst nicht ganz unstrittig ist.

      Was bedeutet es, „StrittigkeitStrittigkeit zu bearbeiten“, was genau ist das Ziel von Argumentation? Eine gemeinsame Lösung, einen KonsensKonsens oder Kompromiss zu erlangen und am Ende den bestehenden DissensDissens aufgelöst zu haben? Oder kann auch eine Verschärfung des DissensesDissens Ziel einer Argumentation sein? Es gibt einige Ansätze, die den KonsensKonsens als Ziel von Argumentation sehen (so z.B. die Theorie kommunikativen Handelns von Habermas, vgl. Kapitel 3.3) oder zumindest das Zurückziehen entweder der Problematisierung oder des StandpunktStandpunktes nach einer argumentativen Phase (so z.B. die Pragma-Dialektik, vgl. Kapitel 3.6). Andere Ansätze sehen die Verschärfung einer StreitfrageStreitfrage durchaus auch als Ziel von Argumentation. Völzing (1979) stellt fest: „Es ist die Funktion von Argumentationen, in KonfliktenKonflikt dazu zu dienen, gegenteilige Meinungen oder Ansichten herauszuarbeiten, per Kompromiß oder KonsensKonsens Lösungsmöglichkeiten anzubieten, aber auch Potential zur Verschärfung eines KonfliktsKonflikt bereitzuhalten“ (Völzing, 1979, S. 12). Hier dient Argumentation also nicht ausschließlich der Lösung von KonfliktenKonflikt, sondern kann auch der Zuspitzung von Gegensätzen dienen, ohne einen direkten Einigungswillen. So sind beispielsweise parlamentarische Debatten oder politische Talkshows nicht darauf ausgelegt, KonsensKonsens zu erzielen, sondern vielmehr darauf, gegensätzliche Positionen vor einem Publikum aufzuführen. Vertreterinnen einer KonsensorientierungKonsensorientierung der Argumentation würden an dieser Stelle aber vermutlich argumentieren, dass die Verschärfung ein Zwischenstadium ist, um für einen Zeitraum unterschiedliche Positionen auszustellen und zu pointieren und damit ein Publikum in die Lage zu versetzen, eine fundierte Entscheidung zu treffen. Wie Klein (2001) treffend sagt, besteht in Situationen, in denen die Argumentierenden sich aufeinander beziehen, aber den DissensDissens nicht lösen können, „die Chance, dass aus unbegriffenem DissensDissens begriffener DissensDissens wird – was bei der Vorbereitung von Entscheidungen häufig notwendige Bedingung für tragfähige Kompromisse ist“ (S. 1311).

      Inwieweit ein argumentativer Austausch auf einen KonsensKonsensorientierung orientiert ist, hängt vom Argumentationskontext und speziell vom Grad an AgonalitätAgonalität ab. Im Beispiel des Ausschnitts aus „Die zwölf Geschworenen“ ist dies ein Kontext, in dem zwei Parteien – Anklage und Verteidigung – einander gegenüberstehen und eine Entscheidung nach bestimmten Verfahrensregeln getroffen werden muss. Zugleich rahmt Juror 8 die Situation eher als gemeinsames Problemlösen: Er hat noch keinen eigenen StandpunktStandpunkt, formuliert Zweifel an dem geäußerten Standpunkt und will über das Abwägen von Gründen zu einer fundierten, legitimen Entscheidung kommen. Der Grad an Agonalität ist hier deutlich geringer als in einer Konfrontation zwischen unterschiedlichen, klar formulierten Positionen.

      AgonalitätAgonalität bestimmt Situationen, die auf einen Wettkampf oder eine kämpferische Auseinandersetzung bezogen sind. Lyotard (1989) nutzt den Begriff AgonistikAgonistik in Bezug auf die argumentative Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien mit einer dritten, beobachtenden Partei als Entscheidungsinstanz.

      Die Differenzierung zwischen verschiedenen Graden von AgonalitätAgonalität ist eine Frage, die momentan wieder stärker in den Fokus rückt. So kontrastiert Ehlich (2014, S. 41) explorativesArgumentierenexploratives und persuasivesArgumentierenpersuasives Argumentieren. Dabei geht er, im Anschluss an Trautmann (2004), davon aus, dass Argumentation eine Form der Wissensbearbeitung darstellt: Argumentation wird dann notwendig, wenn sich Differenzen zwischen den Wissenssystemen der Gesprächspartnerinnen ergeben (vgl. Ehlich, 2014, S. 45). Die Grundannahme ist hier, wie in fast allen Argumentationstheorien, dass Argumentation dann genutzt wird, wenn die Kommunikation zwischen den Partnern nicht mehr glatt verläuft, also Problematisierungen auftreten. Ehlich differenziert zwischen verschiedenen Arten der Differenzen zwischen den Wissenssystemen: Im persuasivenArgumentierenpersuasives Argumentieren versuchen Gesprächspartnerinnen „interessebezogen die eigene Position in Bezug auf etwas gemeinschaftlich Fragliches zur Geltung zu bringen“ (S. 46), in explorativerArgumentierenexploratives Argumentation geht es „primär um eine gemeinsame Weiterentwicklung von Wissen als Umwandlung von präzisiert Unbekanntem in Bekanntes“ (S. 47). Eine Weiterentwicklung dieser Differenzierung steht noch aus. Als theoretische Setzung gilt für so gut wie alle argumentationstheoretischen Ansätze, dass auch für Argumentation mit einem geringen Grad an AgonalitätAgonalität StrittigkeitStrittigkeit gegeben ist, wenn auch nur implizit. StrittigkeitStrittigkeit ist damit konstitutiv für Argumentation.

      Argumentation hat also zwei Funktionen: Die Bearbeitung von StrittigkeitStrittigkeit und die Etablierung von Geltung. Je nach argumentativer Situation kann eine der Funktionen im Vordergrund stehen, ohne dass dann die andere Funktion gänzlich fehlt.

      2.1.4 Argumentieren und Erklären

      Der Grad an AgonalitätAgonalität zwischen verschiedenen Formen der Argumentation kann variieren und StrittigkeitStrittigkeit auch implizit angenommene StrittigkeitStrittigkeit sein. Aber wie unterscheiden sich dann Argumentieren und ErklärenErklären? Ist Begründen innerhalb einer Argumentation nichts anderes als die Erklärung, warum die Konklusion zu Recht besteht? Wenn man ErklärenErklären und Argumentieren in Verbindung bringt, dann ist Argumentation eine spezifische Form des ErklärensErklären, die Klein (2001) als „ErklärenErklären-warum“ bezeichnet. Aus Perspektive der SprechakttheorieSprechakttheorie gleichen sich ErklärenErklären-warum und Argumentieren dahingehend, dass beide konklusive Sprechhandlungen vollziehen (S. 1309), d.h. sie etablieren Schlüsse zwischen verschiedenen Aussagen. Sie unterscheiden sich aber, so Klein (2001), in ihrer pragmatischen Funktion. So geht es beim ErklärenErklären-warum um das „Explizieren des Zustandekommens von Sachverhalten“ (S. 1316), wohingegen Argumentieren auf „problematische Geltungsansprüche“ (S. 1316) bezogen ist. Nach Morek (2012) unterscheiden sich beide Formen durch die epistemische Haltung, die die Beteiligten zu ihren Aussagen einnehmen: Beim ErklärenErklären ist diese durch Gewissheit gekennzeichnet, beim Argumentieren durch Verhandelbarkeit. Allerdings ist die klare Bestimmung von Äußerungen als Argumentation oder Erklären-warum nicht immer möglich. Äußerungen können durchaus beide Funktionen vereinen. Deppermann (2006, S. 14) betont, dass sich die verschiedenen Bereiche Argumentieren, ErklärenErklären und semantisches Explizieren häufig nicht klar trennen lassen bzw. Äußerungen sich mehreren Kategorien zuordnen lassen. Analytisch sind ErklärenErklären-warum und


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