Fach- und sprachintegrierter Unterricht an der Universität. Michael Schart
Читать онлайн книгу.aus ihr zwangsläufig ergeben. Unterricht müsste folgerichtig als eine „Ermöglichungsdidaktik“ (Arnold/Gómez Tutor 2007:178) gedacht werden, eine Abkehr von kleinschrittiger, eng führender Planung hin zum Schaffen von vielfältigen Lerngelegenheiten und Herausforderungen.3 Und Forschung müsste sich mehr auf den Facettenreichtum lokaler Kontexte einlassen, der Versuchung widerstehen, Komplexität vorschnell zu reduzieren und vor allem die Scheu vor idiosynkratischen Erkenntnissen überwinden.
Wer sich als Forscherin oder Forscher intensiv den Lernprozessen in einer einzelnen Lerngruppe widmet und dabei beispielsweise die Herausbildung eines Beziehungsgeflechts detailliert nachvollzieht, kommt sicher nicht zu Erkenntnissen, die sich ohne weiteres auf das gesamte Bildungssystem übertragen lassen, nicht einmal Aussagen über das Geschehen in der Parallelklasse sind wahrscheinlich. Und dennoch bringen sie die Forschung voran, denn sie machen greifbar, was es konkret bedeutet, wenn wir von der Vielfalt der Einflussfaktoren auf Lehr- und Lernprozesse in Institutionen sprechen.
Annahmen allgemeinerer Art lassen sich überhaupt erst dann treffen, wenn wir tiefere Einsichten in dieses komplexe Gebilde aus individuellen Entscheidungen, Kontextbedingungen, persönlichen Charakteristika und Unterrichtsaktivitäten sowie deren Zusammenspiel mit Einflussgrößen wie persönlicher Erfahrung, Motivation, Inspiration oder Konventionen erlangen. Die Güte einer solchen Studie lässt sich also nicht an der externen Validität der Ergebnisse festmachen. Sie zeigt sich vielmehr darin, ob es gelingt, deren Zustandekommen nachvollziehbar darzustellen und sie verständlich zu beschreiben. Das schafft die Voraussetzung für die Transferabilität (Lincoln/Guba 2009:40)4 von Erkenntnissen. Larsen-Freeman (2018) fordert daher in ihrem Ausblick auf künftige Fremdsprachenforschung zurecht mehr Arbeiten, die der Tendenz zur Reduktion von Komplexität widerstehen und sich stattdessen darauf einlassen, die Lehr- und Lernprozesse in einem konkreten Kontext ganzheitlich zu erfassen.
2.2.8 Überblick zum Forschungsprojekt
Wenn im vorangegangenen Abschnitt der Schwerpunkt auf den soziokulturellen Ansatz gelegt wurde, so lässt sich das zum einen mit seiner randständigen Position innerhalb der empirischen Fremdsprachenforschung begründen, die eine ausführlichere Darstellung notwendig erscheinen lässt. Vor allem ergibt sich diese besondere Aufmerksamkeit aber aus der zentralen Bedeutung der soziokulturellen Perspektive für das vorliegende Forschungsprojekt.
Abb. 2.1 veranschaulicht, welche Schwerpunkte die vier Teilstudien bei der Datenanalyse wählen. Den oben beschriebenen Prämissen des soziokulturellen Ansatzes folgen dabei drei der Teilprojekte. Dass die kognitive Perspektive nur bei der Untersuchung zur Lernersprache in Kap. 6 im Zentrum steht, soll jedoch ihren Wert nicht schmälern. Erst die Integration auch dieser Perspektive verleiht der Gesamtstudie ihren Charakter als ein multiperspektivisches Forschungsprojekt.
Dieses Kapitel stellte dar, wie mehrere forschungsmethodische Grenzgänge in ein Konzept für das Gesamtprojekt mündeten. Fragen zur Forschungsmethodologie, insbesondere zum Rollenverständnis und zu den Gütekriterien, kamen dabei bereits mehrfach zur Sprache. Weitere, die Anlage der einzelnen Teilstudien betreffende Aspekte werden in den entsprechenden Kapiteln ausgeführt. Zuvor möchte ich jedoch das unterrichtliche Umfeld ins Blickfeld rücken, denn auch dort zeichnet sich eine Reihe von Grenzgängen ab, deren Darstellung für das Verständnis der vorliegenden Studie von ausschlaggebender Bedeutung ist.
Überblick über das gesamte Forschungsprojekt
2.3 Forschungskontext
2.3.1 Genese des Programms
Alle empirischen Daten, die in diese Studie eingeflossen sind, entstammen dem Intensivprogramm für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio und damit einem Studienangebot, das seine Legitimität und sein Selbstverständnis aus einer Grenzüberschreitung ableitet. Denn als es die verantwortlichen Programmgestalter in den frühen 1990er Jahren entwarfen, ließen sie sich vor allem von der Idee leiten, einen Lernort zu schaffen, an dem akademische Disziplinen in bislang ungewohnter Weise verknüpft werden (vgl. Sambe 1996). Um die innovative Kraft dieses Konzepts zu verstehen, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf die Rolle der Deutschausbildung im japanischen Universitätssystem zu werfen.
Die Möglichkeit, im Rahmen des Bildungssystems eine zweite Fremdsprache zu erlernen, eröffnet sich vielen jungen Japanerinnen und Japanern erst dann, wenn sie mit einem Hochschulstudium beginnen. Und so finden mehr als 93 Prozent des Deutschunterrichts in Japan an den Hochschulen statt (JGG-Komitee 2013:19)1, entweder in Sprachenzentren oder in speziellen Fremdsprachenprogrammen der einzelnen Fakultäten. In beiden Fällen wird Deutsch jedoch von Lehrenden unterrichtet, die sich eigentlich als Germanisten verstehen (vgl. Schart/Ohta 2018). Das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Konzeption der Curricula bzw. die Gestaltung des Unterrichts, denn die Lehrenden legen ihren Schwerpunkt auf die Vermittlung systematischen Sprachwissens oder sie wählen für ihre Veranstaltungen im Rahmen der Deutschausbildung literatur- und kulturwissenschaftliche Themen, und das ganz unabhängig davon, welchem Fachbereich die Studierenden angehören. Der Deutschunterricht wird also im Sinne eines Studium Generale als Teil der Allgemeinbildung betrachtet, die gerade in den ersten beiden Studienjahren an japanischen Universitäten eine bedeutsame Stellung einnimmt.
Das Konzept für ein neu zu errichtendes Intensivprogramm an der Juristischen Fakultät der Keio Universität brach Anfang der 1990er Jahre mit dieser Tradition und griff stattdessen eine nahe liegende Idee auf: Man wollte den Studierenden Lernräume bieten, in denen sie sich mit Themen auseinandersetzen können, die ihnen auch in ihrem Hauptfach – Jura oder Politikwissenschaft – begegneten. Nur sollte das im Medium der Fremdsprache Deutsch geschehen und aus der Perspektive des deutschsprachigen Raumes. Man setzte also auf die Synergieeffekte, die sich aus der Verbindung von fremdsprachlichen und inhaltlichen Lernprozessen ergeben, wobei dieses Konzept in den ersten Jahren seiner Umsetzung jedoch kaum mit unterrichtsmethodischen Überlegungen unterfüttert wurde. Auch die sich zeitlich parallel vollziehenden Entwicklungen in der Fremdsprachendidaktik wie etwa aufgaben- oder inhaltsbasierte Ansätze (siehe Kap.2.4 und 2.5) blieben unberücksichtigt. Und nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass in der Phase der Aufbauarbeit die Ressourcen fehlten, um die Lehr- und Lernprozesse systematisch zu untersuchen. Es konnte daher über mehrere Jahre hinweg nicht aufgezeigt werden, inwieweit sich das Innovative des Programms über die gefühlte und erhoffte Evidenz hinaus zugleich auch in Erfolgen niederschlägt. Das änderte sich im zweiten und dritten Jahrzehnt seines Bestehens mit einer Reihe von empirischen Studien, auf die ich weiter unten noch eingehen werde und deren Kulminationspunkt die vorliegende Arbeit bildet.
2.3.2 Programmstruktur
Am Intensivprogramm für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio können Studierende der Fachbereiche Jura und Politikwissenschaft über die gesamte Dauer ihres vierjährigen Bachelor-Studiums hinweg teilnehmen. Die meisten Lernenden beginnen das Programm ohne Vorkenntnisse der deutschen Sprache und sie belegen im Normalfall vier Semesterwochenstunden (à 90 Minuten). Die besonderen Merkmale dieses Studienangebots ergeben sich demnach aus seiner Intensität, der Kontinuität und der bereits erwähnten Verknüpfung von fremdsprachlichem und fachlichem Lernen.
Allerdings weist das Programm keine einheitliche Struktur auf. Die Gründe dafür liegen in den Entwicklungsprozessen, die dieses Studienangebot in den 25 Jahren seines Bestehens durchlaufen hat. Personelle Veränderungen haben in der Gestaltung ebenso ihre Spuren hinterlassen wie die Erkenntnisse aus Evaluationen oder Impulse aus der fremdsprachdidaktischen Forschung. Zum Verständnis der Ergebnisse in diesem Band ist es nicht notwendig, alle Modifikationen nachzuzeichnen, die die ursprüngliche Konzeption des Programms erfahren hat. Eine für dieses Forschungsprojekt entscheidende Tendenz des letzten Jahrzehnts muss ich jedoch hervorheben, denn sie bildet den Ansatzpunkt für die vorliegende Studie.
In den 1990er Jahren gingen die verantwortlichen Programmgestalter noch davon aus, dass die Integration von Fach und Sprache erst auf der Grundlage solider fremdsprachlicher Kompetenzen möglich und sinnvoll sei. Sie blieb daher vor allem