Spanische Lexikologie. Bernhard Pöll
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Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit
Unter Lexikalisierung versteht man im Allgemeinen die Aufnahme einer neuen Einheit in das Lexikon. Sie dient wie die Wortbildung und die Entlehnung aus anderen Sprachen der Erweiterung des Begriffs- und Ausdrucksvorrats einer Sprache (cf. dazu Motsch 1983). Der Prozess der Aufnahme einer neuen Einheit geht häufig mit phonologischen und morphologischen Veränderungen einher; bei neuen mehrgliedrigen Einheiten, die ins Lexikon übernommen werden, ist damit immer eine (wenn auch manchmal nur minimale) semantische Veränderung verbunden:
Lexikalisierung ist oft (aber nicht immer) damit verbunden oder davon gefolgt, daß die komplexen Wörter idiosynkratische Eigenschaften annehmen, d.h. formal, semantisch oder phonologisch nicht mehr transparent sind. (Schwarze/Wunderlich 1985, 16)
Im zeitlichen Ablauf kann man sich diesen Prozess etwa so vorstellen: Die semantische Veränderung (Abbildung eines neuen Begriffs) geht dem Eintreten voran, was nachfolgende Bedeutungsentwicklungen aber nicht ausschließt; durch hohe Gebrauchsfrequenz folgen eventuell morphologische und phonologische Modifikationen (Vereinfachungen) – es kommt zu “interne[m] Strukturverlust” (Coulmas 1985, 255). Häufige Beispiele dafür wären Verschiebungen der Flexionsmarkierungen (alta voz > altavoz, pl. altavoces), Akzentverschiebungen ('rica 'dueña > rica'dueña), phonologische Assimilation (agua ardiente > aguardiente), Genuswechsel (una cara dura > un caradura) usw.
Reproduzierbarkeit meint, dass ein Element im konkreten Sprechakt nicht konstruiert, sondern aus dem (mentalen) Lexikon abgerufen wird, wo es als Ganzes gespeichert ist. In der Terminologie von E. Coseriu wird deshalb der Bereich der Phraseologie auch als “wiederholte Rede” bezeichnet (cf. z.B. Thun 1978).
Lexikalisierung zieht oft die Aufnahme in Wörterbücher nach sich. Für komplexe Wortschatzelemente stellt sich dabei die Frage, wie (und wo) sie in traditionell alphabetisch geordnete Wörterbücher integriert werden sollen.4
2.3 Satzwertige Phraseologismen und Sprichwörter
Neben den weiter oben nur kurz angesprochenen pragmatischen Idiomen gehören zur Phraseologie i.w.S. auch satzwertige Phraseologismen. Aus traditioneller Sicht ist ihre Zugehörigkeit zum Lexikon problematisch, da sie nicht auf der Satzebene integriert werden oder in jedem Fall ihre sprachliche Anschließbarkeit geringer ist, cf.
ni hablar del peluquín ‘das kommt gar nicht in Frage’
el mundoV: Stadtname o.ä. es un pañuelo ‘die Welt ist ein Dorf’
Ha pasadoV: pasó un ángel.1
Ein ähnliches Problem ergibt sich mit Sprichwörtern, Sentenzen und sprichwörtlichen Redensarten, dem Gegenstandsbereich der traditionell eng mit der Volkskunde und Literaturwissenschaft verbundenen Parömiologie.
Was ihre Bedeutungsstruktur betrifft, sind natürlich auch sie als nicht kompositionell zu interpretieren. Man muss sich allerdings fragen, ob man sie zum Sprachsystem zählen soll oder ob sie eher Texte sind, die zum kulturellen und sozialen Gemeingut gehören und als solche zitiert werden. Thun (1978, 242) betrachtet sie als “fertige Texte […], die andere kommentieren”. Neben der Funktion des Kommentars haben sie aber auch noch andere illokutionäre Funktionen (z.B. Rat, Vorschlag, etc.). A quien madruga, Dios le ayuda kann beispielsweise als Rat oder Mahnung gemeint sein; bei De la abundancia del corazón habla la boca kann in der Verwendung Ironie oder vielleicht auch Mitleid ausgedrückt werden, und bei Quien la hace la paga mag der Ausdruck der Überlegenheit oder Schadenfreude Hauptintention der Verwendung sein.
3 Zur Formseite des Wortschatzes: Wörter und ihr innerer Aufbau
3.1 Allgemeines
Im vorangegangenen Kapitel wurden ausgehend von der lexikalischen Basiseinheit Wort bzw. Lexem weitere Einheiten des Lexikons beschrieben (komplexe Wörter, Phraseologismen etc.). Dabei war die Perspektive vom Kleineren zum Größeren gerichtet. In diesem Abschnitt nehmen wir eine umgekehrte Blickrichtung ein und befassen uns mit der Frage,
1 wie einfache und komplexe Wörter aufgebaut sind und
2 nach welchen Prinzipien aus Bauteilen unterhalb der Wortebene neue Wörter entstehen.
Die beiden Fragen können nicht getrennt voneinander behandelt werden, da sich aus (a) die Prinzipien von (b) ableiten lassen. Der existierende Wortschatz gibt also vor, wie zukünftig gebildete Wörter aufgebaut sein werden.
Neue Wörter werden aus zwei Gründen gebildet: Auf der einen Seite muss eine Sprechergemeinschaft dem Wandel der sie umgebenden Welt Rechnung tragen und neue Begriffe sprachlich abbilden (sog. Nomination). Wortbildung ist eine von mehreren Möglichkeiten, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie steht neben der Entlehnung aus anderen Sprachen und der Bedeutungsveränderung bestehender Wörter, z.B. durch Metaphorisierung.
Auf der anderen Seite haben manche Produkte der Wortbildung auch die Funktion von Phrasen, dann nämlich, wenn sie der individuellen, meist spontanen Beschreibung von bestimmten Situationen und Sachverhalten dienen. Beispiele dafür sind die sog. Augenblicksbildungen wie coleccionista trotagalerías ‘Sammler, der gern/häufig Galerien besucht’ (nach dem Vorbild trotamundos ‘Weltenbummler’ gebildet), teoherético (Wortkreuzung aus teórico und herético), encezannarse ‘sich in Cézanne vertiefen’, enciclomedia (Wortkreuzung aus enciclopedia und comedia).1 In der Regel werden solche Neologismen nicht in das aktuale Lexikon übernommen und natürlich auch nicht in Wörterbüchern beschrieben.
3.2 Grundbegriffe: Morphem, Allomorph, Basis etc.
3.2.1 Konstituentenanalyse: ausgewählte Beispiele
Die meisten Wörter, denen wir in Texten begegnen, lassen sich in kleinere Einheiten zerlegen; untersuchen wir die folgenden Beispiele: ilusionistas, descolgar, deseoso, por.
ilusionistas: Unter der Bedingung, dass die Teile noch in irgendeiner Form eine “Bedeutung” haben sollen, ergibt die Zerlegung dieses Wortes drei Komponenten: ilusión, -ista und -s. Alle drei haben eine bestimmte Bedeutung, und nur diese Analyse des Wortes führt zu kleineren Einheiten, die die genannte Bedingung erfüllen. Eine weitergehende Analyse würde – auf der Ebene der Lautung – zu Phonemen, also bedeutungsunterscheidenden Einheiten führen. Die bedeutungstragenden Minimaleinheiten nennt man in der Regel Morpheme.1 Welche Bedeutung oder Funktion kann man nun diesen Komponenten zuschreiben? Als das Grund- oder Basismorphem trägt ilusión die lexikalische Bedeutung; es bildet den Ausgangspunkt für die Ableitung des Substantivs ilusionista. Das Morphem -ista ist offensichtlich dafür verantwortlich, dass die komplexe Bildung jemanden bezeichnet, der das realisiert, durchführt oder betreibt, was durch die Basis ausgedrückt wird, also einen Handelnden. Beim Vergleich mit anderen Substantiven auf -ista – z.B. violonista, fisioterapista, comentarista – ist zu erkennen, dass diese Bedeutung durchaus systematisch ist. Neben anderen Funktionen, die dieses Suffix hat, bildet man damit also sog. Nomina agentis. Die Endung -s schließlich hat keine Bedeutung im engeren Sinn, sie drückt nur die Kategorie PLURAL aus. Wenn man den Begriff Morphem dafür auch gelten lassen will, muss er erweitert werden: ‘kleinste bedeutungstragende oder funktionale Einheit’.
descolgar: Hier ist die Morphemanalyse schon etwas komplizierter, weil nicht auf den ersten Blick klar ist, ob drei oder vier Komponenten vorliegen. Das Grundmorphem ist zweifelsohne in jedem Fall colg-. Allerdings könnte man die Frage stellen, ob die weiteren Morpheme (1) des-, -ar, d.h. Präfix mit der ungefähren Bedeutung ‘weg’ und Infinitivendung oder (2) des-, -a-, -r