"Du sollst nicht töten". Ursula Corbin

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geben würde?

      Die Stunden vergingen ätzend langsam, und ich begleitete ihn im Geist auf seinem letzten Gang. Um ein Uhr morgens unserer Zeit rief schließlich seine Frau an. Clifford war tot, gestorben durch eine Giftspritze; es war sein neunter Hinrichtungstermin gewesen.

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      Das erste Mal traf ich mich mit Mariam alias Mary in Huntsville, Texas. Eine rothaarige, sommersprossige Frau, etwa 40 Jahre alt. Sie trug ein Kopftuch und erzählte mir gleich, dass sie eigentlich Mary heiße, aber nun den moslemischen Namen Mariam angenommen habe und auch so angesprochen werden wolle. An diesem Treffen tauschten wir ein paar Nettigkeiten aus und schrieben uns später auch hin und wieder ein paar Sätze, doch ich spürte kein Bedürfnis, sie näher kennenzulernen.

      Mariam war Engländerin und hatte ihr ganzes Leben in England verbracht. Sie war dort verheiratet und hatte zwei kleine Mädchen von sechs und acht Jahren. Im Teilzeitpensum arbeitete sie dort als Krankenschwester, ihr Mann in einem Büro. Durch eine Organisation bekam sie die Adresse von Clifford und fing an, ihm zu schreiben. Sie schrieben sich immer öfter, und es dauerte nicht lang, bis sie das Gefühl von Verliebtheit empfand. Sie hatte ein paar Fotos von ihm bekommen – er war ein gut aussehender Mann, sie war angetan davon, dass er sehr gut zuhören und schreiben konnte. Auch wenn er nur die Highschool absolviert hatte, war er doch an vielem interessiert. Zudem hatte er alle Zeit der Welt, ihr jeden Tag zu schreiben, und Mary genoss diese Aufmerksamkeit sehr. Sie konnte ihm sogar ihre Eheprobleme anvertrauen, und er half ihr, damit irgendwie zurechtzukommen.

      Bald einmal erzählte er ihr dann auch vom Islam, und sie nahm alles dankbar auf. Sie besorgte sich einen Koran, begann ihn zu lesen, und in ihren Briefen besprachen sie jedes einzelne Kapitel. Schließlich fand sie, dass sie eigentlich nie eine richtig gläubige Christin gewesen sei und der Islam ihr viel mehr bieten könne.

      Ihr irischer Ehemann war entsetzt, als sie ihm eines Tages erklärte, sie trete aus der katholischen Kirche aus. Zudem teilte sie ihm kurz darauf mit, sie habe sich entschieden, aus diesem eintönigen Leben auszubrechen, und sie gedenke, in Kürze nach Amerika zu ziehen. Mary gestand ihm, sich in einen Amerikaner verliebt zu haben und dass sie mit ihm ein neues Leben beginnen wolle. Sie erzählte ihm jedoch nicht, dass dieser Mann in der Todeszelle saß. Nach tagelangem heftigem Streit, vor allem um die Frage, was mit den beiden Mädchen passieren solle, verließ Mary ihren Mann und ihre Kinder und zog nach Texas.

      In einem Spital in Houston fand sie rasch eine Anstellung als Krankenschwester und mietete nicht weit entfernt vom Gefängnis eine kleine Wohnung. Kaum richtig angekommen, konvertierte sie sehr zum Gefallen von Abdullah (alias Clifford) zum Islam, nannte sich von da an Mariam und trug immer ein Kopftuch und einen Gebetsteppich mit sich. Zwei Wochen später heirateten die beiden, eine rein amtliche Sache: Sie musste in einem Gemeindebüro die Papiere unterschreiben, und er anschließend dasselbe Papier in seiner Zelle. Kein Treffen, kein besonderer Besuch, keine Umarmung – nur ein amtliches Papier.

      Eine Mutter verlässt ihre Kinder wegen eines Mannes, der zum Tode verurteilt ist, den sie nur durch ein Glasfenster sehen und mit dem sie nur per Telefonhörer kommunizieren kann. Sie heiratet einen Mann, mit dem sie nie einen Abend allein verbracht hat und den sie nicht einmal nach der zivilen Trauung in die Arme nehmen durfte. Das ist schwer zu verstehen, geschweige denn nachzuvollziehen.

      Mariam fühlte sich unendlich tief verbunden mit diesem Mann, und der Islam schweißte sie zusammen. Sie glaubte daran, dass Allah ihre Gebete erhören und dass Abdullahs Strafe vielleicht doch noch in lebenslängliche Haft umgewandelt würde. Ihre Hoffnung ging so weit, dass er bei guter Führung nach Verbüßung seiner Strafe wieder freikommen und sie eines fernen Tages mit ihm zusammen noch die restlichen Jahre verbringen könne. Sie schmiedete bereits Pläne, wo und wie sie dann mit ihm leben werde.

      Nach der Hinrichtung von Abdullah war Mariam am Boden zerstört. Sie wollte auf keinen Fall länger in Texas bleiben, sondern so schnell wie möglich zurück nach England. In der Zwischenzeit hatte ihr ehemaliger Mann die Scheidung durchgezogen und erreicht, dass Mariam ihre Kinder nicht mehr sehen durfte. Alles Bitten half nichts, der Ehemann wollte nichts mehr von ihr wissen, und Mariam musste in einer anderen Stadt ihr Leben noch einmal von vorne beginnen.

      Danach habe ich nie mehr etwas von ihr gehört.

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      Im Laufe der vielen Jahre, in denen ich mit Gefangenen korrespondierte, habe ich etliche Frauen kennengelernt, die sich in ihre Brieffreunde im Gefängnis verliebt und sie manchmal auch geheiratet haben. Immer wieder habe ich in Gesprächen mit ihnen versucht herauszufinden, wie es so weit kommen kann. Es muss ihnen doch klar gewesen sein, dass diese Männer nie mehr freikommen – im Gegenteil, dass sie irgendwann hingerichtet würden. Es gibt nicht die geringste Chance auf ein gemeinsames Leben, darauf, eine Familie zu gründen …

      Da ist auf der einen Seite ein Mann, der verurteilt ist und der weiß, dass seine Zeit begrenzt ist. Er ist womöglich seit Jahren in eine winzige Zelle eingesperrt, völlig isoliert von der Welt, und wünscht sich nichts mehr, als mit einem Menschen über seine Ängste, sein Leben, seine Tat, seine bevorstehende Hinrichtung, seine Gedanken über den Tod, über Gott – über alles, was ihn zutiefst beschäftigt – zu sprechen. Wer auch immer ihm schreibt, er ist einfach nur froh, endlich jemanden gefunden zu haben, dem er sich anvertrauen kann. Dieser Mann hat den ganzen langen Tag Zeit, um auf seine Brieffreundin einzugehen und ihr zu schreiben. Er hört sich ihre Sorgen an, gibt Ratschläge, vermittelt ihr das Gefühl, dass sie gebraucht wird. Oft hat er recht schnell das Gefühl, dass er sie liebe. Sie ist ja meist der einzige Mensch, der noch an seinem Leben teilnimmt.

      Auf der anderen Seite eine sozial denkende Frau. Sie möchte etwas Gutes tun, möchte mit ihren Briefen etwas Menschlichkeit in ein verpfuschtes Leben bringen. Vielleicht ist sie auch einsam, vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen in ihrem Leben gemacht. Auch sie ist froh, endlich jemanden zu haben, dem sie alles anvertrauen kann. Auch ihr bedeutet diese Brieffreundschaft immer mehr und wird zu einem wichtigen Teil in ihrem Leben. Je mehr sie sich verbunden und verstanden fühlt, desto leichter kommen auch bei ihr Gefühle auf.

      Oft wird dann verdrängt, dass dieser Mann kein unbeschriebenes Blatt ist und dass er nun wegen eines Mordes zum Tode verurteilt wurde. Die Frau beginnt alles erdenklich Gute auf ihn zu projizieren – all das, was sie sich von einem Mann erträumt. Auf einmal sieht sie in ihm den idealen Mann, der Einzige, der sie versteht, der einfühlsam ist und sie bedingungslos liebt, so wie sie ist. Sie will gar nicht mehr daran denken, dass sie niemals die Gelegenheit haben wird, mit ihm zusammen zu sein. Sie versinkt in ihrer Fantasiewelt, was für beide ja auch schön sein kann: raus aus der brutalen Wirklichkeit, hinein in eine Welt voller Möglichkeiten.

      Solange nur die beiden involviert sind in einer solchen Beziehung, ist das auch in Ordnung. Beide haben nichts zu verlieren, und es geht auch nur sie beide etwas an. Problematisch wird es dann, wenn, wie im Falle von Mary, ein Ehemann oder Kinder betroffen sind und Familien oder Beziehungen daran zerbrechen.

      Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, es ist oft eine äußerst schwierige Gratwanderung: Zu geben – und doch nicht zu viel –, zu nehmen – und doch immer Grenzen aufzuzeigen!

       Grüße aus dem Radio

      Es war wieder einer dieser feucht-heißen Tage in Texas; mein Auto hatte sich auf dem Parkplatz des Gefängnisses von Ellis One in einen Backofen verwandelt. Völlig erschöpft von der emotionalen Anspannung während meines Besuches bei Clifford und dieser Hitze, kam ich eine halbe Stunde später im Motel in Huntsville an. Obwohl es eine billige Unterkunft war, gab es eine Klimaanlage im Zimmer. Die kühle Luft half dennoch nicht, es roch muffig.

      Ich zog meine Schuhe aus und schlüpfte gleich in die Flipflops, um mit meinen Füßen auf keinen Fall den garantiert mit Bakterien getränkten Teppich im Zimmer betreten zu müssen. Wie bei nahezu allen amerikanischen Motels gab es auch in diesem nur ebenerdige Zimmer, ständig gingen Leute vor dem Fenster hin und her, darum ließ ich die Vorhänge des Fensters


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