Evangelisch für Dummies. Marco Kranjc
Читать онлайн книгу.Weg ist nicht zu verstehen, wenn man nicht die Entwicklung seines persönlichen Glaubens kennt. Nicht sein aufbrausendes Temperament ließ ihn später mit der römischen Kirche aneinandergeraten, sondern seine Überzeugungen, die er aus dem Studium der Bibel gewonnen hatte.
Auf den Punkt gebracht war Luthers Problem die Frage: »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?« Es ging nicht darum, dass Gott sich verändern und »gnädig werden« sollte. Vielmehr war Martin Luthers Frage, was er denn selbst tun könne, damit Gott ihm gnädig würde. Was sollte er tun und wann würde es genug sein? Wann habe ich gut genug gelebt, dass Gott mich in seinen Himmel lässt? Wann habe ich genug Gutes getan, dass Gott mir nicht mehr böse ist? Wie kann ich sicher sein, dass ich trotz allen guten Willens und aller guten Taten nicht ohne Beichte und Buße sterbe und im letzten Moment doch noch in die Hölle komme?
Es ist erstaunlich, wie sehr Martin Luther um sein »Heil« kämpfte, um die Sündenvergebung und das ewige Leben in Gemeinschaft mit Gott. Wer, wenn nicht dieser vorbildliche Mönch Martin Luther, sollte denn von Gott angenommen werden? In eher theologischen Begriffen gesprochen suchte Luther nach »Rechtfertigung«.
Theologische Grundbegriffe: Rechtfertigung und Gerechtigkeit Gottes
Bei den Worten »Rechtfertigung«, »rechtfertigen« und ein wenig auch »Gerechtigkeit« handelt es sich um Begriffe, die in der theologischen Sprache eine etwas andere Bedeutung haben als im Alltag. So gebrauchen wir das Wort »rechtfertigen« fast nur noch im Sinne von »sich rechtfertigen« – das kann zum Beispiel in einem persönlichen Streit oder vor Gericht der Fall sein. Auch eine Entscheidung oder eine bestimmte Handlung müssen wir vielleicht manchmal »rechtfertigen«. In all diesen Fällen erklären wir also unseren Mitmenschen, dass wir »im Recht« sind. Bei den Theologen ist das anders: Hier muss Gott selbst den verlorenen Menschen »rechtfertigen«. Der Mensch hat Gott gar nichts zu bringen, womit er sich selbst rechtfertigen, also erreichen könnte, dass er vor Gott gut dasteht.
Das Wort »Gerechtigkeit« wird in theologischer Sprache zwar auch so gebraucht, wie wir es im Alltag benutzen, also: »die Gesellschaft soll gerecht sein«, »das Gesetz soll für Gerechtigkeit sorgen« oder »jemand handelt gerecht«. In der Sprache der Theologen ist aber »Gerechtigkeit« auch der Gegensatz von »Sünde«. Also: Gott ist gerecht, der Mensch aber ein Sünder. Und das öffnet einen Graben, den der Mensch von sich aus nicht überwinden kann.
Hier kommt nun der Glaube ins Spiel. Er wird verstanden als »Vertrauen in Gott«. Gott spricht den Menschen gerecht, der daran glaubt, dass Christus am Kreuz für alle Schuld der Menschen gebüßt hat. Durch den Glauben nimmt der Mensch dieses Opfer dankbar an und Gott sieht den Menschen von nun an nicht mehr als Sünder, sondern als einen »Gerechtfertigten«.
Etwas untheologischer gesprochen: Ein Mensch muss sich jetzt nicht mehr Gedanken darüber machen, ob er gut genug ist, um vor Gott bestehen zu können. Wenn der Mensch nur ganz Gott vertraut, macht er selbst ihn »gut genug« für den »Himmel«.
Ganz einfach gesagt geht es dann auch bei Martin Luthers Glaubenskämpfen und -zweifeln um diese eine Frage: Werden wir vor Gott gerechtfertigt durch das, was wir tun, oder durch das, was wir glauben?
In den Jahren, in denen Martin Luther als vorbildlicher Mönch lebte, wurde er gleichzeitig ein verängstigter, zweifelnder und im Grunde auch auf Gott wütender Christ. Er fühlte sich von Gott verurteilt, ohne wirklich die Möglichkeit zu haben, es Gott jemals recht machen zu können. Wieder und wieder las er die Bibel. Bis ihm endlich ein Licht aufging.
Martin Luther liest die Bibel
Da Martin Luther Doktor der Theologie war und Studenten unterrichten musste, beschäftigte er sich schon von Berufs wegen intensiv mit der Bibel. Aber er suchte darin auch nach Antworten auf seine eigenen Fragen und Zweifel. Denn woher sollten Gottes Antworten kommen, wenn nicht aus seinem Wort?
Im Jahre 1545, ein Jahr vor seinem Tod, beschrieb Luther den Moment, als er plötzlich verstand, was es der Bibel zufolge mit der Vergebung der Sünden auf sich hatte. Hier ging es um einen Vers aus dem Brief des Paulus an die Römer und wir lassen einmal Luther selbst zu Wort kommen (drei Punkte markieren jeweils Auslassung von mir):
Mit außerordentlicher Leidenschaft war ich davon besessen, Paulus im Brief an die Römer kennenzulernen. Nicht die Herzenskälte, sondern ein einziges Wort im ersten Kapitel (Vers 17) war mir bisher dabei im Wege: »Die Gerechtigkeit Gottes wird darin (im Evangelium) offenbart.« Ich haßte nämlich dieses Wort »Gerechtigkeit Gottes«, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war … nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.
Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich haßte ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte … So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos bei Paulus an dieser Stelle an; ich dürstete glühend zu wissen, was Paulus wolle.
Da erbarmte sich Gott meiner. Tag und Nacht war ich in tiefe Gedanken versunken, bis ich endlich den Zusammenhang der Worte beachtete: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm (im Evangelium) offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart … durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht.
Mit so großem Haß, wie ich zuvor das Wort »Gerechtigkeit Gottes« gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dies Wort als das allerliebste hoch. So ist mir diese Stelle des Paulus in der Tat die Pforte des Paradieses gewesen.
(aus: Martin Luther: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Band 2, herausgegeben von Kurt Aland. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1983)
Luther verstand nun, dass »Sünde« nicht einfach nur schlechte Taten wie Diebstahl, Lüge oder Habgier bedeutete. »Sünde« bedeutet, dass der Mensch sich im Grunde seines Wesens ganz von Gott abgewandt hat. Die Beziehung zu Gott ist grundlegend gestört. Und diese Beziehung kann kein Mensch von sich aus wieder heilen (in Luthers Worten »vor Gott gerecht werden«). Das kann nur Gott schenken. Luther wurde klar, wann »genug« ist: Es ist immer genug, wenn der Mensch nur glaubt. Wenn der Mensch nur an die Erlösung durch das Opfer Jesu glaubt, ist er »gerechtfertigt«. Und das nennt Luther dann »allein aus Gnade«.
Dass Gottes Gnade ein Geschenk ist, bedeutet natürlich nicht, dass ein Christ nicht Gutes tun soll. Aber »gute Werke« sind die Folge der Liebe zu Gott. Aus Dankbarkeit für die Errettung und die Liebe Gottes möchte der Gläubige so leben, wie es Gott gefällt (also zum Beispiel die Gebote halten). Für die Erlösung des Menschen bewirken die guten Werke allerdings rein gar nichts.
Luther erzählte in seinem Lebensrückblick die ganze Geschichte zwar wie ein plötzliches Ereignis, aber aus seinen Schriften wird auch deutlich, dass sich sein Denken eher schrittweise zu diesem »allein aus Glauben« und »allein aus Gnade« entwickelte. Wirklich klar und zur festen Überzeugung wurde ihm seine Sicht von Glaube und Gnade wohl erst in den Monaten nach dem Anschlag der 95 Thesen in Wittenberg. Als er an die Öffentlichkeit trat, wollte er eigentlich nur auf den Missbrauch von Ablass und Buße hinweisen. Wahrscheinlich dachte er über den Ablassmissbrauch sogar noch: »Wenn das der Papst wüsste!«
Schon im September 1517 veröffentlichte Luther 97 Thesen (also Aussagen oder Behauptungen), die als Grundlage für eine Diskussion dienen. Sie können angefochten