Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Bernd-Jürgen Fischer

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Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer


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stimmten sechs Mitglieder der Jury für sein Werk, die anderen vier dagegen für Roland Dorgelès’ (d. i. Roland Lécavelé, 1885–1973) Les Croix de bois (dt. Die hölzernen Kreuze, Übers. Tony Kellen und Erhard Wittek, Horw-Luzern/Stuttgart/Leipzig: Montana-Verlag, 1930; von Tucholsky euphorisch besprochen). Die Entscheidung der Académie Goncourt wurde in der Presse scharf angegriffen, zum Teil mit absurden Argumenten (»ein Talent von jenseits des Grabes«), im wesentlichen aber mit der Begründung, dass in einer Zeit, die noch immer ihre Toten zähle, eine Auseinandersetzung mit der gesamteuropäischen Kata­strophe des Weltkrieges angemessener und notwendiger sei als die mit den Problemen halbseidener Damen der Belle Époque oder spätpubertärer Jugendlicher im Luxusurlaub: »Diese Collage ruheloser Grübeleien … steht im Missklang mit dem neuerwachten klassischen Geist, den die Partei der Intelligenz für allein verträglich mit der Größe unserer siegreichen Nation erachtet« (beide Zitate von dem bis dahin mit Proust befreundeten Jean de Pierrefeu am 12. 12. 1919 immerhin im Journal des débats, einem liberal-konservativen Wochenmagazin, das hohes Ansehen nicht nur bei dem »Parti de l’Intelligence«2 genoss); Proust geißelt dann übrigens dieses verengte Verständnis von Literatur in einer Passage der Recherche (WZ, S. 268–271 und 278 f.) ausgiebig. Auf kurze Sicht jedoch gab das Publikum den Nörglern recht: Die Croix de bois erzielten bis Mitte 1920 eine viermal so hohe Auflage wie die Jeunes filles en fleurs (79 779 gegenüber 19 600). Auf lange Sicht haben sich die Verhältnisse bekanntlich umgekehrt, jedoch wird auch Dorgelès’ Buch noch immer aufgelegt, so 2014 bei Magnard, und 1988 erschien eine Überarbeitung der deutschen Übersetzung von 1930 bei Kiepenheuer.

      Der Eukalyptus-Zerstäuber, den Proust mit in die Bibliothèque Mazarine nahm, weil ihn der Staub irritierte, hat ihn sicherlich einige Sympathien seiner Kollegen gekostet, lässt aber auch seine bürgerliche Laufbahn in einem milderen Licht erscheinen; Proust war wirklich von schwacher Konstitution. Schon als Zehnjähriger litt er an Asthmaanfällen, die ihn zunehmend in seinem gesellschaftlichen Leben beschränkten, aus dem er sich ab 1906 dann auch weitgehend zurückzog. Um die durch Atemnot bedingte Schlaflosigkeit zu bekämpfen, experimentierte er mit allen möglichen Arzneien und Drogen herum, die ihm womöglich kreative Träume bescherten, die sich dann auch in der Suche wiederfinden, aber seine Konstitution nur weiter untergraben haben dürften. Berühmt-berüchtigt sind seine »fumigations« mit Legras-Pulver geworden, bei denen er sein Schlafzimmer mit Dämpfen zunebelte, die ihm Luft verschaffen sollten.

      Oben »doute«, 966 Vorkommen; unten »amour«, 933 Vorkommen (Seitenzahl des Typoskripts meiner Übersetzung der Recherche aufgetragen über der Nummer des Vorkommens des jeweiligen Wortes).

      Der Arzt Dr. Pierre Merklen hatte 1904 Prousts Asthma als nervös bedingt diagnostiziert. Proust verbrachte daraufhin von Anfang Dezember 1905 bis Mitte Januar 1906 sechs Wochen im Sanatorium des Neurologen Dr. Paul-Auguste Sollier (1861–1933) in Boulogne-sur-Seine zur Behandlung seiner »Neurasthenie«, jedoch nach seiner eigenen Einschätzung ohne nennenswerten Erfolg. Dennoch dürfte dieser Aufenthalt in anderer Hinsicht Früchte getragen haben, denn Solliers Therapie baute nicht nur auf Isolation, sondern auch auf der Auslösung »unwillentlicher Erinnerungen« auf. Proust mag hier also auf ein entscheidendes Konzept für die Umgestaltung des Jean Santeuil zur Recherche gestoßen sein: vgl. dazu etwa die Titel von Solliers Monographien Les Troubles de la Mémoire (1892) oder Le Problème de la Mémoire (1900). Auf den Zusammenhang zwischen Prousts zentralem Thema und Solliers Spezialgebiet haben wohl als erste Bogousslavsky und Walusinski3 hingewiesen. Besonderen Einfluss dürfte aber die zur Konzeption der Recherche zeitlich nahe Schrift Le doute (1909) von Sollier ausgeübt haben, denn das Konzept des Zweifels zieht sich wie ein roter Faden durch die Recherche: das Wort »doute« tritt ungefähr ebenso häufig auf wie das Wort »amour«, jedoch mit unübertroffener Regelmäßigkeit: die Liebe zwar kommt und geht, der Zweifel aber besteht.

      Zu Erwähnungen Solliers durch Proust vgl. insbes. jene in den Carnets S. 51, wo er die Pfiffe der Lokomotive aus dem Auftakt zu Combray in Verbindung mit dem Aufenthalt bei Sollier bringt, sowie etliche in der Correspondance.

      Aus heutiger Sicht deutet das Auftreten der Asthmaanfälle vor allem im Frühjahr und insbesondere in Parks und Gärten auf eine Pollenallergie hin, die meist mit einer Hausstauballergie einhergeht; unter diesem Aspekt war Prousts Entschluss, 1910 sein Schlafzimmer am Boulevard Haussmann zur Geräuschdämmung mit Korktapeten ausschlagen zu lassen, ohne Zweifel kontraindiziert.

      Seine letzten Lebensjahre verbrachte Proust vorwiegend schreibend im Bett. Kurz nach der Fertigstellung des Manuskripts zu seinem Hauptwerk À la recherche du temps perdu starb er am 18. November 1922 in seiner Wohnung in Paris an Lungenentzündung. Die geeigneten Antibiotika standen erst ab 1935 zur Verfügung.

      Prousts erste Jugendliebe war den Quellen zufolge Marie Bénardaky (1874–1949), zweifellos ein Vorbild für Gilberte, die in der Nähe der Champs-Élysées (Rue de Chaillot) wohnte, wo er ihr 1886 begegnete, mit der er dort Barlauf spielte und die er in einer Widmung von 1918 für Jacques de Lacretelle als »eine der beiden großen Lieben meines Lebens« bezeichnete – ohne allerdings die zweite zu benennen. Aber Marie schien nicht viel von ihm wissen zu wollen.

      Vermutlich im Frühjahr 1888 schrieb Proust einen Brief an seinen Schulfreund Jacques Bizet, der darauf schließen lässt, dass Proust ihm zuvor einen Antrag gemacht hatte, der Jacques wohl nicht willkommen war (»Ich finde es traurig, die Frucht nicht zu pflücken, die wir schon bald nicht mehr werden pflücken können. Dann wäre es schon … die verbotene Frucht. Aber jedenfalls findest Du sie ja jetzt schon vergiftet«; Corr. I, S. 104). Jacques wurde später Taxiunternehmer in Monaco und vermittelte Proust den Fahrer Alfred Agostinelli, der später noch eine erhebliche Rolle in Prousts Leben spielte.

      Im Oktober 1888 reichte Proust bei der von ihm mitgegründeten Schülerzeitschrift La Revue lilas ein kräftig homoerotisch getöntes Prosagedicht Glaukos ein (Übers. in: Nachgelassenes), das als zu skandalös abgewiesen wurde und Daniel Halévy gemeint haben dürfte: Man muss nicht nur die Bravour bewundern, mit der der damals siebzehnjährige Schüler die übliche Verstellung verweigerte, sondern auch die Gelassenheit, mit der die Adressaten die offenbar unerwünschten Anträge auf sich beruhen ließen.

      Eine Freundschaft, mit der Proust offenbar große Hoffnungen verband, war die zu Willie Heath, einem jungen Engländer, den Proust im Frühjahr 1893 im Bois de Boulogne kennenlernte und der bereits ein halbes Jahr später, am 3. Oktober 1893, an Ruhr starb. In der Widmung »Meinem Freund Willie Heath« von Les Plaisirs et les Jours schreibt Proust: »Wir träumten davon, wir hatten uns geradezu fest vorgenommen, immer inniger in einem Kreis großherziger, auserlesener Frauen und Männer zusammenzuleben, von Dummheit, Laster und Bosheit weit genug entfernt, um uns vor den Pfeilen ihrer Vulgarität sicher zu fühlen.«

      Im Herbst 1901 lernte Proust den Comte Bertrand de Salignac-Fénelon (1878–1914) durch den gemeinsamen Bekannten Antoine Bibesco kennen. Offenbar entwickelt sich zwischen den beiden schnell ein enges Freundschaftsgefühl: Die Szene aus Guermantes, in der Saint-Loup über die Bänke im Restaurant steigt, um Marcel einen Mantel zu besorgen, hat ihr Vorbild im Restaurant Larue, wo Bertrand sich entsprechend verhielt. 1902 jedoch kam das Erwachen: Die beiden unternahmen eine gemeinsame Reise durch Holland, die Proust sich wohl recht sentimental vorgestellt hatte, von der er jedoch äußerst deprimiert an seine Mutter berichtete. Fénelon ging kurz darauf als Attaché nach Konstantinopel, meldete sich dann als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und fand 1914 den Tod. Proust betrauerte ihn zutiefst.

      Alfred Agostinelli (1888–1914) schließlich, der letzte in diesem Reigen tragischer Liebesaffären, war Proust von seinem Kollegen Odilon Albaret, dem Gatten von Prousts Haushälterin Céleste Albaret und Chauffeur bei Jacques Bizets monegassischem Taxi- und Mietwagen-Unternehmen, als Fahrer vermittelt worden. 1907 und 1908 machten Proust und Agostinelli zahlreiche Ausflüge vor allem in die Normandie und die Bretagne, die in Prousts Figaro-Artikel »Reiseeindrücke im Automobil«4 ihren Niederschlag gefunden haben. Im Sommer 1913 stellte Proust Agostinelli abermals


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