Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
Читать онлайн книгу.zu weinen, vergißt er; er faßt sich, und stürzt mit seinem Spieße desto schärfer in die Feinde: sollte er deßwegen kein Mensch an Empfindung seyn, weil er nicht wie Mars, oder die Dame Venus aufschrie? Hektor, der tapferste Trojaner, wird von des Ajax großem Felsenstein niedergeworfen, und auf der Brust gequetscht: Spieß und Schild und Helm entfallen: rings um ihn klingen die ehernen Waffen16 – aber aufzuschreien vergißt er. Man muntert ihn auf, gießt ihm Wasser ein: er kommt zu sich: blickt auf; aber er sinkt in die Kniee, speiet schwarzes Blut – und doch denkt der Unmensch an eins nicht, über seine Brustschmerzen, über seine Seitenstiche zu schreien und zu weinen. – So mit allen Helden Homers, der auch in diesem Stücke Charakter beobachtet. Menelaus wird vom Pfeile Pandarus unvermuthet und im wichtigsten Zeitpunkte getroffen: sein Blut rinnt: Agamemnon fährt zusammen: Menelaus selbst;17 aber nichts mehr! da er den Pfeil in der Wunde sieht, zieht er ihn aus, und läßt seinen Bruder und seine Mitsoldaten um sich seufzen. Man weiß, daß Homer eine ordentliche Leiter der Tapferkeit habe, und er hat sie auch in dieser anscheinlichen Kleinigkeit sogar. Ulysses18 hält deßwegen seinen Schmerz zurück, weil er die Wunde nicht tödtlich fühlt; Agamemnon und Menelaus fahren19 bei der Verwundung doch noch zusammen; aber endlich der verwundete Diomedes »stand, rief dem Sthenelus, ihm den Pfeil aus der Wunde zu ziehen; und da das Blut quoll, so strömte seine Empfindung, statt in Thränen und Geschrei, in feurige Gebete wider die Feinde aus.20 Solche Unmenschen sind die Helden Homers, und je größerer Held, je größerer Unmensch: sein Achilles ist sogar am Körper unverletzlich.«
Ists also bei Homer, daß seine Helden schreien und weinen müssen, »um der menschlichen Natur treu zu bleiben, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen, wenn es auf die Aeußerung dieses Gefühls durch Schreien oder durch Thränen ankommt?«21 Ich wollte nicht, daß ein alter Grieche, dessen Heldenseele, als ein seliger Dämon noch in der Welt unsichtbar wandelte, diese Behauptung läse. Was? würde er sagen, was ist wohl einem in die Schlacht ziehenden Helden natürlicher, als verwundet, getroffen werden; sich fürchten also kann er, wenn ihn ein unvermutheter Pfeil trifft; aber in der Schlacht schreien und weinen, das thut kein homerischer Held der Griechen; selbst kein Held der Trojaner, die doch immer Homer in kleinen Zügen herunter setzt. Einem Hektor22 in seinem Tode entsinkt, selbst bei seiner letzten sterbenden Bitte, keine Thräne, kein Ton des Geschreies: ein Sarpedon23 knirscht, da er stirbt, und je tapferer, um so gefaßter bei dem Schmerze. Nur die Feigen zittern und weinen und schreien: Pherekles, der feige Flüchtling, und die weichliche Venus, und der Eisenfressende Trojanische Mars. So dichtet mein Homer.
Und so hält also die so einnehmende Leßingsche Betrachtung24 über die Empfindbarkeit der Griechen, und den Kontrast derselben gegen rohe Barbarn, und seine Europäer nicht Stich? Die Empfindbarkeit zum Schmerzen bei einem körperlichen Schmerze nicht wohl, wenigstens nicht als homerischer Heldenzug, nicht allgemein, nicht als nothwendiges Kennzeichen der menschlichen Empfindung. Giebts aber keine andre Empfindbarkeit zu Thränen, und auch zu lauten, zu klagenden Thränen, als körperlicher Schmerz? Ohne Zweifel, und eben diese Empfindbarkeit, wenn sie ein Vorzug der Griechen wäre, macht ihnen zwar mehr Ehre; allein die Abhandlung darüber wäre offenbar eine Ausschweifung von dem Satze, den Hr. L. glaubt erwiesen zu haben,25 »daß das Schreien,26 bei Empfindung körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten Griechischen Denkart, gar wohl mit einer großen Seele bestehen kann;« ein seltner Satz, der im ersten Abschnitt, auch eben so selten, mit einer Armee von weinenden Helden, die ich im Homer nicht kenne, bewiesen wird.27 Um also doch nicht leer auszugehen, lasset uns Leßingen auf seinem Abwege folgen.
1 Von der Nachahmung griechischer Werke. S. 22.
2 Less. im Laok. p. 3.
3 Νεω. ἑρπ’ εἰ ϑέλεις. τί δή ποϑ ὧδ’ ’δεν ὀυδενός
Λόγ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt] σιωπᾷς, κᾀποπλήκτως ὧδ’ ἔχη
Φιλ. ἆ ἆ ἆ.
Νεο. τι ’στιν;
Φιλ. [fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]δ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]ν δεινόν. ἀλλ’ ἰδ ω τέκνον κ. τ. λ.
4 Laok. p. 3.
5 Sophokl. Philokt. Akt. 1. Auftr.
6 Laok. p. 4.
7 Laok. p. 4.
8 Laok. p. 4.
9 Αμφι δ’ οσσε κελαινη νυξ εκαλυψ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]
10Iliad. E. 68. ἔριπ’ οἰμώξας
11 Η δέ μέγ’ ἰαχ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]σα. Iliad. Ε. v. 343.
12 Αβληχηρην. Iliad. Ε. v. 337.
13 Iliad. E.v. 859.
14 Laok. p. 5.
15 Iliad. λ. v. 254. ΡἹΓΗΣΕΝ ν’αρ’ έπειτα ἄναξ ἀνδρωκ Ἀλαμεμνων.
16 Iliad. Ξ v. 418
17 Iliad. Δ. v. 148.
18 Iliad. Λ. v. 439.
19 Iliad. Δ. v. 148.
20 Iliad. Ε. v. 95.