Die Mythen der Bibel . Walter Brendel

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Die Mythen der Bibel  - Walter Brendel


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Glaubens: Menschen, die mit den Malen Jesu gezeichnet werden – mit Hand-, Fuß- und Brustwunden. manchmal auch mit dem Abdruck der Dornenkrone oder des Kreuzes. Menschen, die an den Leidenstagen des Herrn immer wieder neu bluten, zugleich verzückende Visionen erleben, keine Nahrung mehr brauchen und mitunter heilende Fähigkeiten erlangen: Ähnliche schaurig-faszinierende Superlative scheint nur der Exorzismus zu bieten.

      Die Traditionslinie beginnt mit Franziskus von Assisi, dem abtrünnigen Kaufmannssohn und 1228 heiliggesprochenen Gründer des nach ihm benannten Bettelordens.

      Kurz nach seinem Tod im Jahre 1226 verfasst sein Ordensbruder Elias von Cortona einen Brief, der der Welt ein „neues Wunder“ verkündet: „Lange vor seinem Tode erschien unser Vater und Bruder als ein Gekreuzigter, der an seinem Körper die fünf Wunden trug, die in Wahrheit die Stigmata Christi sind. Denn seine Hände und Füße trugen Male, wie wenn Nägel von oben nach unten hineingeschlagen worden wären, welche die Wunden offenlegten und schwarz waren wie Nägel: die Seite erschien wie von einer Lanze durchbohrt, und oft floss Blut aus ihr.“

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      Volksheilige: Franziskus (um 1181-1226) soll auf dem Berg Alverna die Wundmale Christi empfangen haben: Altargemälde (um 1300) von Giotto di Bondone. Die oberpfälzische Bauernmagd Therese Neumann litt ab 1926 unter Stigmatisation, wobei Blut aus Händen und Augen ausgetreten sein soll

      Die später verfassten Heiligenviten liefern genaue Angaben über das „Wo“ und „Wie“. Ihnen zufolge ereignete sich das Mirakel um das Fest der Kreuzeserhöhung (gefeiert zum Andenken an die Wiedererlangung eines Teils des Kreuzes Christi im Jahr 628), im September 1224. als sich Franziskus auf dem Berg Alverna in die Leiden Jesu versenkte. Auf dem Höhepunkt der Andacht erschien ihm ein gekreuzigter Engel mit sechs Flügeln - und ließ ihn mit Nägelmalen in Händen und Füßen zurück.

      Seither gebiert jede Epoche eigene blutende Träger der Christusmale - getreu den Worten des Auferstandenen, der sich seinen Jüngern durch die Echtheit seiner Wunden zu erkennen gibt (Lukas 24,39): „Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst.“ Die Zahlenangaben variieren stark. 321 Fälle listet der Arzt Antoine Imbert-Gourbeyre 1894 auf, darunter 40 Männer. Seine Sammlung umfasst allerdings auch "innere Stigmata“: unsichtbare „Wunden“, die sich lediglich in Schmerzen äußern.

      Der Jesuit Herbert Thurston (1856-1939) - einer der renommiertesten Kenner der Materie - spricht von 50 bis 60 vollständig Stigmatisierten. Neben Franziskus von Assisi nennt er nur einen weiteren Mann: Padre Pio, den 2002 heiliggesprochenen Kapuzinermönch aus Apulien, der die Wunden 1918 vor einer Statue des Gekreuzigten empfängt. Doch wer sind all jene Menschen, Katholiken in der Mehrzahl, die nach frommer Lesart als Auserwählte Gottes gelten müssen? Und: Wie haltbar ist der Glaube an blutige „Wunder“ aus der Sicht des 21. Jahrhunderts?

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      Todesmal: Laut Johannesevangelium soll ein römischer Soldat seine Lanze in die Seite des Gekreuzigten gestoßen haben. Blut und Wasser flossen aus - ein Zeichen, dass Jesus gestorben war

      Wer Betrug wittert, stößt mühelos auf eine „schwarze Liste“, die vom Mittelalter bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Auf ihr finden sich längst vergessene Kurzzeit- „Heilige“ wie die portugiesische Dominikanerin Maria de la Visitacion, deren Christuswunden um 1587 von der Inquisition abgewischt werden. Argwohn trifft indes auch Padre Pio - Italiens verehrten Nationalheiligen, durch dessen Wunden Weggefährten angeblich sogar Zeitung lesen konnten. Glaubt man dem Historiker Sergio Luzzatto, wandte sich der Pater hilfesuchend an eine Apotheke in Foggia - um dort zunächst hautverätzende Karbolsäure und schließlich eine ebenso bedenkliche Ration des schmerzstillenden Gifts Veratrin zu ordern.

      Weitere, übergreifende Beobachtungen verstärken die Zweifel am göttlichen Ursprung des Blutwunders. So sind die Jesusmale bis in die jüngste Gegenwart nie dort erschienen, wo sie sich - nach neuen historischen Erkenntnissen - tatsächlich befunden haben mussten: nicht in den Handflächen, sondern nahe der Handwurzel, zwischen Elle und Speiche. der einzigen Stelle, die eine sichere Befestigung am Kreuz garantierte.

      Ähnliche Vorbehalte beziehen sich auf die Glaubwürdigkeit der Begleitvisionen. Arm an Zeitkolorit, teils historisch falsch und - wie das Aussehen der Wunden – verdächtig nah an zeitlich verhafteten Erbauungstexten und bildlichen Darstellungen: Dieses Forscherurteil gilt mithin selbst für die berühmten Schauungen der seliggesprochenen Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick (1774-1824). Was der romantische Dichter Clemens Brentano einst am Bettrand der Gezeichneten notierte, diente 180 Jahre später als Vorlage für Mel Gibsons umstrittenen Film „Die Passion Christi“.

      Das Endprodukt erweist sich als ebenso grausame wie schillernde Detailorgie - bis hin zur Darstellung einer Geißelung, die sich in dieser Extremform, als Blutrausch aus Widerhaken und umherfliegenden Fleischstücken, nicht in der Bibel findet.

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      Fanatiker: Auf den Philippinen lassen sich gläubige Christen an Karfreitag für kurze Zeit ans Kreuz schlagen. Damit die Wunden nicht ausreißen, werden die Gekreuzigten mit Seilen gesichert

      Ärzte und Biologen, die das geheime Regelwerk von Epidemien erforschen, richten besonderes Augenmerk auf den Patienten „null“, der das Virus als Erster in Umlauf bringt. Der Volkskundler Christoph Daxelmüller verdichtet das Interesse an Franziskus in der Frage: „Warum sparte Gott über mehr als ein Jahrtausend hinweg an einem Wunder, mit dem er von nun an heiligmäßige Menschen in der Mehrzahl Frauen, bis ins 20. Jahrhundert ( ... ) auszeichnen sollte?“

      Die Suche nach Antworten fördert überraschendes zutage: Das Mirakel wird nicht nur in einer Epoche geboren, die wie keine vorhergegangene nach sinnlichen Verkörperungen der Christusgewalt verlangt. Noch dazu lassen sich viele Muster, denen das Wunder bis heute zu folgen scheint, auf hochmittelalterliche Weichenstellungen zurückführen.

      Als Franziskus die Zeichen empfängt, befindet sich die abendländische Frömmigkeit in einer revolutionären Umbruchphase. Über tausend Jahre lang triumphierte der siegreiche Christus - seit dem Hohen Mittelalter aber richtet sich die Anbetung auf den leidenden Menschensohn, der durch die Kreuzzüge und Pilgerfahrten ins Heilige Land in nie gekannter Weise greifbar wird. Die Besessenheit von den leiblichen Dimensionen der Erlösung führt schließlich zu einer veränderten Umsetzung des Nachfolgegebots: „Das Kreuz auf sich nehmen“ bedeutet zu Lebzeiten von Franziskus nicht mehr nur, in Armut oder im Dienst am Nächsten leben. Sondern: leiden, ächzen - und fühlen wie der Fleischgewordene.

      Vor diesem Hintergrund erschafft der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux neue Passionsmystik, die den Körper zum Ort der Gotteserfahrung macht. ln einem Zeitalter, das die zärtliche Liebe als Ideal verherrlicht, soll sich der Gläubige als „Braut“ zur „Jesusminne“ emporheben. Das leibliche Sich-Einfühlen in die Qualen Christi wird in erotischen Bildern beschworen - just in dem Moment, als die Kirche die Ehelosigkeit für Priester und Ordensleute zementiert.

      Beispielhaft hierfür steht das Hohelied des Alten Testaments: ein betörend-sinnliches Zwiegespräch zwischen zwei Liebenden, das den Moment der höchsten Lust mit der Berührung der Lippen gleichsetzt. In Bernhards Deutung steht dieser Kuss für das Einswerden mit Gott, dem das Hochmittelalter mit einer neuen Technik - der Bildmeditation - entgegenarbeitet.

      Schon im 12. Jahrhundert werden Mönche ermahnt, ihre Zellen mit dem „Bildwerk des am Kreuze hangenden Heilands“ auszustatten und sich mit seiner Hilfe in die Passion zu versenken. Im Spätmittelalter greift die Bildmeditation schließlich derart um sich, dass sich der Historiker Peter Dinzelbacher dafür ausspricht, „sehr viele Visionen“ als Beschreibungen von Kunstwerken zu lesen.

      Bezeichnenderweise spricht die Verherrlichung des schwachen Christus gerade Ordensfrauen an. Wie Kulturwissenschaftler betonen, gilt demütiges Erdulden seit frühester Zeit als weibliches Verhalten. Dies erklärt, warum der „Schmerzensmann“ - just in dem Moment, da er das vormals nackte Kreuz erobert - mit kindlich-mädchenhaften


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