Die Farben einer parallelen Welt. Mikola Dziadok
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DIE FARBEN
EINER PARALLELEN WELT
Aus dem Russischen
von Wanja Müller
Mit einer Vorbemerkung von Felix Ackermann
und Erläuterungen von Christian Ganzer
INHALT
Felix Ackermann Das Gefängnis als Echokammer
Der Aufstand gegen die göttliche Hierarchie
Christian Ganzer Im Schatten des Gulag
Vorbemerkung
DAS GEFÄNGNIS ALS ECHOKAMMER
Felix Ackermann
Mikola Dziadoks konzise Beschreibungen des Alltags in belarusischen Gefängnissen und Straflagern geben einen Einblick in eine Welt, die sich weniger als 1000 Kilometer von Berlin entfernt östlich der Außengrenze der Europäischen Union auftut. Mit dem scharf gezeichneten Bild vom Innenleben der Strafanstalten in der Republik Belarus wird einem Staat der Spiegel vorgehalten, der seine eigenen Bürger inhaftiert und foltert, allein weil sie für Grundrechte, Selbstbestimmung und freie Wahlen einstehen. Dziadok zeigt in seinen lakonischen Essays, wie im Alltag belarusischer Gefängnisse die in Belarus geltenden Gesetze missachtet werden. Er berichtet, wie politische Gefangene Opfer staatlicher Gewalt werden. Und er zeichnet minutiös nach, dass Willkür kein abstrakter Zustand allgemeiner Rechtlosigkeit ist, sondern die aktiv herbeigeführte, bewusste Überschreitung von Grenzen des Rechts, die auch in der Verfassung sowie den Gesetzen der Republik Belarus festgeschrieben sind.
Mikola Dziadok ist heute Geisel eines illegitimen politischen Regimes, dem das Vertrauen durch die eigene Bevölkerung seit dem Sommer 2020 entzogen ist. Die psychischen und physischen Misshandlungen, die Dziadok für den Zeitraum 2010 bis 2015 dokumentiert, erfolgen heute in ähnlicher Weise – jeden Tag mitten in Europa. Sie werden ihm und den anderen inzwischen mehr als 800 politischen Gefangenen stellvertretend zugefügt, um die über neun Millionen Einwohner der Republik vor der Gewalt des Staats zu warnen. Damit zeigt der Blogger und Aktivist auch, unter welchen Bedingungen heute Maria Kolesnikowa, Sergei Tsichanowskij und viele andere im belarusischen Strafvollzug leben.
Zugleich macht Dziadok in seinen Texten deutlich, dass es eine Möglichkeit gibt, die Gewaltherrschaft im Gefängnis selbst vorzuführen und sie gegen die Institutionen des illegitimen Staats zu wenden. Auch wenn er heute abgeschirmt von der Öffentlichkeit und weitgehend ohne Kontakt zu seiner Familie hinter Gittern ist, gelang es ihm mit seinem Buch sowie aus dem Strafvollzug geschmuggelten Berichten, das Gefängnis in eine Echokammer des Widerstands zu verwandeln. So werden das mit den Händen geformte Herz einer Maria Kolesnikowa während der Gerichtsverhandlung ebenso wie die Texte von Mikola Dziadok zum Aufruf, weiterhin einzustehen gegen die Gewalt von Alexander Lukaschenkos maskierten Unterstützern.
Das vorliegende Buch wirft auch die Frage auf, wie es die Menschen im westlichen Europa mit Staatsverbrechen mitten in Europa halten. Wer heute die Zustände in belarusischen Gefängnissen auch außerhalb der Landesgrenzen anprangert, unterstützt die Inhaftierten ebenso wie die belarusische Demokratiebewegung. Deshalb fließt der Gewinn aus dieser Publikation vollständig in die Arbeit des Vereins Razam, in dem sich nach Deutschland Geflüchtete aktiv für politisch Verfolgte in Belarus einsetzen. Der Verein Liberecco listet auf seiner Homepage die aktuellen Adressen der politischen Gefangenen in Belarus auf – es ist möglich, ihnen auch aus dem Ausland auf Russisch und Belarusisch Briefe zu schreiben. Die Schweizer Parlamentsabgeordnete Tamara Funiciello übernahm eine Patenschaft für Mikola Dziadok. Unter #westandby gibt es im Internet zudem Stimmen ganz unterschiedlicher Zeitgenoss:innen zur Willkür in Belarus – einer Willkür, deren systematischen Charakter Dziadok am Beispiel der Haftanstalten seziert.
Felix Ackermann ist Historiker, Kulturwissenschaftler und Stadtanthropologe. Seit 2016 forscht er am Deutschen Historischen Institut Warschau.
VORWORT
Als Kind habe ich im Vorwort zu irgendeinem Buch eine treffende Bemerkung gelesen: „Kaum verbringt ein Intellektueller eine Nacht auf einer Polizeistation, schreibt er gleich ein Buch darüber“. Ich weiß nicht, ob ich mich als Intellektuellen bezeichnen kann, und in den Kerkern des Systems habe ich mehr als nur eine Nacht verbracht, doch diese Bemerkung finde ich sehr passend. In der Tat gibt ein Gefängnis, der Freiheitsentzug und alles, was damit verbunden ist, einem Menschen ein so breites Spektrum an Gefühlen und Eindrücken wie kaum etwas anderes. Und für jemand, der gewohnt ist, das Erlebte kritisch zu analysieren, ist das auch noch ein unglaublich fruchtbarer Boden für Beobachtungen, Reflexionen und tiefes Nachdenken.
Diese Textsammlung, so die Idee, die ich hoffentlich realisieren kann, soll nur ein Zwischenschritt zu einer umfassenden Geschichte sein, bloß eine Skizze auf der Leinwand, die erst noch mit Farben bemalt werden muss – sie vermittelt einen allgemeinen Eindruck, lässt aber noch nicht die Fülle des Gesamtbildes erkennen. Ein solches Bild wird, wie ich hoffe, ein Buch sein, das über meine Zeit im Gefängnis vom ersten bis zum letzten Tag erzählt.
Warum habe ich mich entschieden, „Die Farben einer parallelen Welt“ zu schreiben? Erstens: Die Machthaber hatten und haben Angst davor, dass das, was in Gefängnissen geschieht, an die Öffentlichkeit dringt, und sie tun bewusst alles, um die Gefängnisse so weit wie nur möglich von der Außenwelt