Die Farben einer parallelen Welt. Mikola Dziadok

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Die Farben einer parallelen Welt - Mikola Dziadok


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Regale, die Kanten der Pritsche, den Heizkörper, über den Tisch zu fahren, sie bücken sich, klettern unter den Tisch und kriechen fast schon auf allen Vieren, suchen nach Staub und wenigstens einem kleinen Fleckchen Schmutz. Alles vergeblich, die Zelle glänzt. Dann drückt einer der Aufseher, der zuvor mit der Hand über das Regal gefahren ist, auf die Stelle, wo die alte Farbe abgeblättert ist und verreibt sie zwischen seinen Fingern – winzige Farbpartikel bleiben auf seiner Hand.

      „Oh! Da haben wir es ja: Staub! Dann setzen wir aber gleich mal ein Protokoll auf.“

      Was ich denen geantwortet habe, weiß ich nicht mehr. Aber dieser Vorfall erledigte endgültig den Glauben, ein politischer Gefangener könne in der Zone3 so leben, dass man ihn in Ruhe lässt.

      Ein anderer Fall aus der Strafkolonie Nr. 9, in Horki. Ein Gefangener, der wusste, dass die Bullen wütend auf ihn waren und seine Strafisolation sehr wahrscheinlich verlängern wollten, verhielt sich vorbildlich. Er knöpfte seine Uniformjacke bis zum letzen Knopf zu, schlief tagsüber nicht. Und so bricht ein weiterer Tag an. Die Mittagszeit ist vorüber. Ein paar der Jungs, die mit ihm in der Zelle saßen, strecken sich auf dem Boden aus und schnarchen vor sich hin. Die Zellentür öffnet sich und der Vertreter des Koloniechefs tritt ein. Die da schlafen, beachtet er gar nicht. Mit dem vermeintlich vorbildlichen Gefangenen findet aber ein Gespräch statt:

      „Und warum schläfst du nicht?“

      „Ich halte mich an die Vollzugsordnung!“

      „So so, du hältst dich dran … Na, das gibt ein Protokoll – ein Protokoll!“

      Und dann kann der Gefangene vor der Disziplinarkommission versuchen, so lange zu beweisen, wie er will, dass er nicht geschlafen und auch sonst nichts verbrochen hat. Ich habe von keinem einzigen Fall gehört oder einen solchen erlebt, bei dem solche Erklärungen jemals, auch nur ein einziges Mal, irgendjemandem geholfen hätten, die Strafe wenigstens zu reduzieren, geschweige denn sie ganz abzuwenden.

      In der Strafkolonie Nr. 17, in Schklou, in den alten Zeiten, als man in der Zone noch öfter Handys finden konnte, hämmerten die gefängnisinternen operativen Ermittler5 den Häftlingen ein: Wer mit einem Handy erwischt wird, wandert für dreißig Tage in den Strafisolator! – Aber wie können es denn dreißig Tage sein, laut Gesetz sind doch maximal fünfzehn zulässig? Das heißt: Jemand ist noch gar nicht im Isolator gelandet, und die Bullen wissen schon, dass er dort einen „Regelverstoß“ begehen wird und man ihm noch weitere fünfzehn Tage drauflegen wird?

      Die Unverschämtheit der Aufseher und die Gewöhnung der Häftlinge an die Willkür erreicht absurde Dimensionen. Ein ehemaliger Insasse der Strafkolonie Nr. 8 in Orscha erzählte mir, wie er zusätzliche Tage in der Strafisolation bekam. Bei einer Zellenkontrolle kommt der diensthabende Vertreter des Koloniechefs und geht die Liste der Zelleninsassen durch. Er schaut, welcher Gefangene laut Liste als zuständiger Zellenältester ausgewiesen wird, und wenn es derjenige ist, den die Operativen abzuschießen befohlen haben, sagt er ohne den Blick von der Liste zu heben: „Iwanow6 – Spinnennetzchen“ und geht wieder raus. Das bedeutet, dass in der Zelle unter der Decke eine Spinnwebe hängt. Wenn der Diensthabende meint, da ist eins, spielt es überhaupt keine Rolle, ob da wirklich eines hängt oder nicht. Die Schuld daran trägt der zuständige Zellenälteste, der schlecht aufgeräumt hat. Das bedeutet, gegen ihn wird ein Verstoßprotokoll verfasst, das vom Chef der Strafkolonie bei der Sitzung der Disziplinarkommission geprüft wird und dann entscheiden die anwesenden Vollzugsbeamten, ob gegen Iwanow4 eine Disziplinarmaßnahme verhängt werden muss. Aber diese lange Erklärung braucht der Gefangene nicht. Das Wort Spinnennetzchen neben seinem Namen in der Liste bedeutet nur eines: Sein Aufenthalt im Strafisolator verlängert sich um mindestens zehn Tage. Im Verlauf dieses Spektakels stellt keiner der Anwesenden irgendwelche Fragen, es herrscht völliges Einvernehmen.

      Wie sehr ich auch danach gesucht habe, ich habe keinen Rechtsakt gefunden, der die Gesamtaufenthaltsdauer eines Gefangenen im Strafisolator irgendwie beschränken würde. Die längste Zeit, die ich ohne Unterbrechung in der Strafisoloationszelle verbracht habe, betrug zwanzig Tage und die Gesamtzeit bei meiner Entlassung betrug fast ein halbes Jahr. Der ehemalige politische Gefangene Jauhen Waskowitsch verbrachte im Gefängnis von Mahiljou dreißig Tage am Stück in der Strafisolation, ingesamt verbrachte er dort ein ganzes Jahr. Ich selbst wurde Zeuge, wie ein Gefangener für sechzig Tage am Stück im Isolator einsaß, weil er die „Selbstverpflichtung zum rechtskonformen Verhalten“ nicht unterschreiben wollte.

      Und mein Zellengenosse in Mahiljou saß 2005 für hundertachtzig Tage am Stück im Strafisolator ein! Alle fünfzehn Tage wurde er in die Gefängnisverwaltung gebracht, um ein weiteres Verstoßprotokoll zu unterschreiben und gleich danach ging’s wieder in die Strafzelle – und das zwölf Mal hintereinander.

      Deshalb, solltet ihr jemals von einem Polizisten, einem ehemaligen oder einem dienstaktiven, von einem staatlichen Journalisten oder von einem korrupten Pseudo-Menschenrechtsaktiven etwas über humane und europäische Standards in belarusischen Gefängnissen hören, dann erzählt ihnen einfach von den Liegestützen in der Nacht, hundertachtzig Tagen Betonkammer und den Spinnennetzchen.

       Juli 2016

      OPJER

      Opjer, der operative Ermittlungsbeamte, ist ein Phänomen der sowjetischen und leider auch der postsowjetischen Realität. Opjer ist das Wort, das jedem vertraut ist, der gerade seiner Freiheit beraubt ist oder es irgendwann einmal war.

      Die mit diesem Wort bezeichnete Person kann ein lächelnder junger Typ sein oder ein kurz vor der Rente stehender Herr mit ergrautem Haar und einem müden Blick, er kann ein Schreihals sein, dessen Augen unruhig hin und her rasen, oder auch ein höflicher Intellektueller, der dich ruhig und konzentriert anschaut, er kann ein willensschwacher Faulenzer oder ein fanatischer Profi sein – so unterschiedlich die Erscheinungen, das Wesen war und bleibt gleich: Opjer.

      Zu Zeiten des zaristischen Russlands wurden sie Gendarmen genannt, später einfach Mitarbeiter der Tscheka5, des UgRO6 und dergleichen Strukturen. Jetzt werden sie „operative Ermittler“, oder auch „Operative“ genannt. Ich frage mich, wie man sie in anderen Ländern nennt? Agents? Polizeiinspektoren? Detectives? Und ziehen sie eine genauso blutige Spur hinter sich her, wie „unser“ Opjer bereits seit rund hundert Jahren?

      Die offiziellen Pflichten eines Operativen, in schönen Gesetzen festgehalten, sind folgende: Sammlung operativer Informationen, Kontrolle der operativen Situation, um Verbrechen aufzuklären und damit „die Rechte und die legitimen Interessen von Bürgern“ zu schützen. Gelächter im Publikum. Denn die reale Tätigkeit dieser Typen mit dem „kühlen Kopf und einem heißen Herzen“ (die Portraits des Urhebers dieser Metapher, des Sadisten Dserschinskij7, sind bis heute ein obligatorisches Kennzeichen eines jeden Arbeitszimmers, in dem ein Operativer sitzt) reicht natürlich sehr viel weiter, als diese trockenen, uninteressanten Formulierungen.

      Meine erste Begegnung mit den Operativen fand am 4. September 2010 in den Büroräumen der Untersuchungshaftanstalt von Okrestina statt, gleich am Tag nach meiner Festnahme. Zwei Ermittlungsbeamte mit scharfem Blick und den Gewohnheiten von Herrschern über Leben und Schicksal, Sokolow und Jaroschik, versuchten mir stundenlang zu beweisen, dass es viel besser sei, ein Dreckskerl und Verräter zu werden, als viele Jahre im Gefängnis zu verbringen. Einen nach dem anderen spulten sie ihre psychologischen Standardtricks ab: Sie sagten mir, dass sie ohnehin bereits „alles wissen“ und es an mir läge, „die ganze Wahrheit“ zu sagen und so mein weiteres Schicksal zum Besseren zu wenden. Sie sagten, dass mich alle meine Freunde bereits verraten hätten, dass ich ausgenutzt werde, sie mir aber helfen wollen – ach ja, der Klassiker! Einer von ihnen gestand sogar, dass er tief in seinem Inneren meine anarchistischen Überzeugungen teile. Genau damit eröffnete später ein KGB-Offizier das Gespräch und offensichtlich ist es eine Standardformel, die sie anwenden, wenn sie politische Aktivisten bearbeiten. Die Gespräche beendeten sie aber in der Regel mit bildhaften Beschreibungen der Schrecken, die mich in Gefängnissen und Strafkolonien erwarten, wobei sie mir ein weiteres Mal anboten, Freunde zu verraten und so meine eigene Haut zu retten.


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