Curriculum Prothetik. Jörg R. Strub

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Curriculum Prothetik - Jörg R. Strub


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und Kulturgeschichte

      Heilkunde und Pflege, die sich aus ursprünglichen Instinkthandlungen und empirischen Wurzeln entwickelt haben, stellen einen wichtigen Mosaikstein innerhalb der kulturellen Leistungen des Menschen dar. Sie kommen universal vor, unterscheiden sich jedoch inhaltlich aufgrund differierender, kulturell determinierter Vorstellungen von Krankheit und Heilung stark voneinander. Heilhandlungen und Pflegemaßnahmen aus der Frühzeit der Menschheit können lediglich indirekt erfasst werden, und zwar zum einen über archäologische Funde und Befunde, zum anderen durch die Beurteilung und Interpretation biohistorischer Quellen. Als solche zählen die sterblichen Überreste ur- und frühgeschichtlicher Menschen, meist in Form der Überlieferung von Skelettfunden, seltener Mumien, die fast immer Hinweise zu Krankheit und Gesundheit (Paläopathologie) liefern und mitunter verschiedenartigste Spuren durchgeführter medizinischer und zahnmedizinischer Anwendungen und Therapien zeigen.

      Diesbezügliche Funde und Befunde mit zahnärztlicher Relevanz reichen weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Sie betreffen nahezu alle heutigen Arbeitsbereiche in der Zahnmedizin: Zahnchirurgie, Zahnerhaltung und Zahnprothetik. Insbesondere bei den teilweise visionär anmutenden Manipulationen, was die Behandlung von kariösen Kavitäten in den Zähnen angeht, finden sich inzwischen immer mehr direkte Beispiele im biohistorischen Fundmaterial. Zeitlich gesehen erstrecken sich die Einzelbeobachtungen von der Altsteinzeit (Paläolithikum) über die Jungsteinzeit (Neolithikum) bis in die Antike, bevor die Zahnerhaltung im 17. Jahrhundert in Mitteleuropa dann endgültig Fuß fasst (Oxillia et al. 2015, Seguin et al. 2014, Bernardini et al. 2012, Nicklisch et al. 2019). Zu den sehr frühen Fundplätzen, an denen Beobachtungen zahnmedizinischer Eingriffe an Bestattungen gemacht wurden, gehört auch ein steinzeitliches Gräberfeld in Pakistan. Dort wurden neun Individuen geborgen, deren Zähne die Spuren von Bohrungen aufwiesen, die im Zeitraum zwischen 7.500 und 9.000 Jahren vor heute durchgeführt wurden. Inwieweit die Eingriffe in diesem Fall medizinisch indiziert waren, blieb bei der Untersuchung an den Betroffenen jedoch ungeklärt (Coppa et al. 2006). Bei Grabungsarbeiten an einer steinzeitlichen Fundstelle in Ägypten wurde eine aus einer Muschel gefertigte Nachbildung eines menschlichen Schneidezahns gefunden. Da dieser artifizielle Zahn nicht in situ gefunden wurde, kann über seinen Verwendungszweck nur spekuliert werden. Neben seiner Verwendung als Ersatz eines verloren gegangenen Inzisivus kann dieser geschnitzte Zahn auch als bloßes Schmuckobjekt gedient haben (Irish et al. 2004). Auch aus den süd- und mittelamerikanischen Hochkulturen sind zahlreiche Manipulationen und Eingriffe im oralen Kontext bekannt (Gantzer 1969, Tiesler et al. 2017, Watson und Garcia 2017).

      Unter Berücksichtigung des archäologischen oder historischen Kontextes ermöglichen die Erkenntnisse aus der Untersuchung der überlieferten Skelettfunde eine Vielzahl sozial- und kulturgeschichtlich relevanter Aussagen über die jeweilige Zeit und gehen damit weit über die engere Paläopathologie hinaus. Neben empirisch erworbenen Erfahrungswerten mit Krankheiten und Gebrechen prägen über die längsten Phasen der Menschheitsgeschichte magisch-religiöse Vorstellungen das Verhalten und Handeln im Bereich der Heilkunde.

      Die Entstehung von Hochkulturen und die Entwicklung von Schriftsystemen markieren den wesentlichen kulturellen Rahmen für die in der medizinhistorischen Forschung als archaisch bezeichnete Medizin des 3. bis 1. Jahrtausends v. Chr., die jedoch geographisch-kulturell beschränkt bleibt. Ihre Fortschritte und Veränderungen gegenüber der magisch-religiösen Medizin beruhen auf der langsam einsetzenden Anwendung des Kausalitätsdenkens in der Diagnostik, auf exakter Beobachtung und Systematik und erstmalig in der schriftlichen Weitergabe des medizinischen Wissens. Eine Vielzahl hygienischer Maßnahmen für das Gemeinwohl (z. B. Kanalisationen, Bäder, Latrinen) sind durch Baudenkmäler eindrucksvoll überliefert. Die Bedeutung solcher Vorkehrungen für die Gesundheit der Menschen im Römischen Reich wird jedoch weit überschätzt (Mitchell 2017). Im letzten Jahrtausend vor der Zeitenwende etabliert sich in Griechenland die erste theoretisch begründete Medizin. Sie entsteht auf dem Boden eines kulturellen Neubeginns, der stark von naturphilosophischen Strömungen beeinflusst ist. Dadurch vermag sie sich von der religiösen Dogmatik der sogenannten Tempelmedizin zu lösen und in ersten Einrichtungen, Vorstufen der späteren medizinischen Schulen, den Boden für die „hippokratische Lehre“ zu bereiten. Deren wissenschaftliche Grundlagen bilden nicht nur die Basis für die griechisch-römische Medizin der Antike (7. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.), sondern stellen auch für die Medizin der Neuzeit die wichtigste Entwicklungsphase dar. Die Überwindung der magisch-religiösen Priestermedizin im ersten Jt. v. Chr. ist gleichzusetzen mit dem Beginn der wissenschaftlichen Medizin in Europa. Eine eigenständige Entwicklung in Westeuropa nimmt sie jedoch erst nach dem Untergang des weströmischen Reiches (Hoffmann-Axthelm 1973).

      Ihre Errungenschaften zeitigen Auswirkungen bis heute und sind durch ein umfangreiches medizinisches Schrifttum belegt. Wichtige Quellen für die medizinische Literatur jener Zeit sind das „Corpus Hippocraticum“, eine Sammlung medizinischer Schriften, die auf Hippokrates (460 bis 370 v. Chr.) und seine Schüler zurückgeht, der medizinische Teil „De medicine libri octo“ einer Enzyklopädie von Aulus Cornelius Celsus aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. sowie die Gesamtdarstellung der Medizin bei Galen (129 bis 199 n. Chr.). Das Ende der Periode der antiken Medizin wird chronologisch unterschiedlich bewertet. Häufig werden der politische Zerfall des römischen Weltreichs in einen östlichen und westlichen Teil (330 n. Chr.), teils auch das Jahr 395 n. Chr. als Zäsur genannt, aber inzwischen liegen die Daten für das Ende der Antike eher in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts oder sogar noch später (Demandt 2014).

      Während die medizinische Tradition der Antike im Osten durch byzantinische Kompilatoren ihre oft als steril bezeichnete Fortführung fand – positive Stimmen heben allerdings ihre Originalität hervor –, gerieten im Westen die medizinischen Fertigkeiten und Kenntnisse aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen, die mit dem Untergang des weströmischen Reiches verbunden waren, in Vergessenheit. Wesentliche Ereignisse im Westen stellen die Germaneneinfälle und die Wirren der Völkerwanderungszeit dar.

      Während des Mittelalters (5. bis 15. Jh. n. Chr.) gelangt antikes medizinisches Wissensgut durch Rezeption, Kompilation und Übersetzungstätigkeit allmählich aus dem arabisch-islamischen Sprach- und Kulturraum in die christliche Welt (Übersetzungen aus dem Arabischen ab 11. Jh., aus dem Griechischen ab 12. Jh.). Frühe Medizinschulen wie Salerno, Toledo, Montpellier und Bologna fungieren ab dem 11. Jahrhundert als Vermittler des theoretischen Wissens für die in der medizinhistorischen Forschung als Zeit der Klostermedizin und Scholastik bekannten medizinischen Perioden (Hoffmann-Axthelm 1973, Strübig 1989).

      Bis zum Spätmittelalter verharren Medizin und Zahnmedizin in West- und Mitteleuropa weitgehend auf dem Kenntnisstand der Antike. Im Laufe der Zeit werden jedoch eigene Konzepte entwickelt und gegen Ende des Mittelalters entsteht eine weniger stark von dem antiken medizinischen Gedankengut geprägte Literatur. Eine selbständige Entwicklung der Medizin (die Zahnmedizin eingeschlossen) beginnt in West- und Mitteleuropa erst mit dem 16. Jahrhundert. Die Erfindung der Buchdruckerkunst (um 1450) begünstigt das Entstehen und die Verbreitung einer eigenständigen medizinischen Literatur und führt damit schließlich zu einer immer stärkeren Abwendung vom traditionellen antiken Schrifttum.

      Vom


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