Der Zauber des Denkens. Siegfried Reusch
Читать онлайн книгу.Welt, in der uns entsprechende Bemühungen von überweltlichen Mächten abgenommen werden. Hier vertrete ich die Idee der europäischen Aufklärung.
Die Frage nach der Rationalität ist auch eine Frage nach der Begründung. Wann ist eine wissenschaftliche Begründung wirklich begründet?
Es ist ein Unterschied, ob Sie einen mathematischen Satz begründen oder beweisen, oder ob Sie eine gesellschaftstheoretische Hypothese begründen. Man wird in einem allgemeinen Sinne sagen können, dass wir von „Begründung“ und „begründet“ genau dann sprechen, wenn die offensichtlichen Geltungsansprüche eingelöst sind und keine Alternative aufgetreten ist, die auf eine andere Weise das leistet, was Theorien oder Sätze, die als begründet gelten, leisten. Eine Begründung ist in diesem Sinne auch nie definitiv abgeschlossen im Sinne von letztbegründet. Dies wäre von vornherein dogmatisch. Ich selbst halte nur einen Begründungsanspruch für vertretbar, in dem Exklusivität nicht mitbehauptet wird, Exklusivität in dem Sinne, dass es zu einer gegebenen Begründung keine Alternativen gäbe. Allerdings – und das ist etwas, was immer hinzugefügt werden muss –, das, was dann konkurrierend auftritt, muss mindestens ebenso gut begründet sein und sich als begründet ausweisen können wie der Versuch, gegen den es sich wendet. Mit dem bloßen Hinweis, es gibt ja keine absoluten oder Letztbegründungen, wäre jede Begründung gleich gut – und das ist keine Alternative.
Gibt es demnach auch keine absoluten Normen?
Wenn wir von absoluten Begründungen sprechen, dann meinen wir, ein Sachverhalt sei ein für allemal in einer bestimmten Weise erklärt, der entsprechende Satz oder die entsprechende Theorie begründet, und dazu gäbe es keine Alternativen. Das ist problematisch. Die Rede von absoluten Normen liegt noch einmal auf einer anderen Ebene, allein schon, weil die Rede von Begründungen bei Normen ihre besonderen Schwierigkeiten hat. Aber selbst da, meine ich, sollte man nicht so zimperlich sein. Es ist die Frage, was man als eine absolute Norm bezeichnet. Wenn man den kategorischen Imperativ oder die Menschenrechte als absolute Normen bezeichnet, dann hätte ich nichts gegen den Begriff der absoluten Norm. Die Bezeichnung „absolute Norm“ wird nur dann problematisch, wenn damit Inhaltliches gemeint ist. Solange wir es mit formalen Normen zu tun haben, und das ist ja beim kategorischen Imperativ der Fall, bringt uns auch die Bezeichnung „absolut“ in keine Schwierigkeiten.
Aber den Europäern wird doch vorgeworfen, dass gerade in den „Menschenrechten“ Werte schon implizit enthalten sind.
Das ist wahr. Insofern habe ich auch ein wenig gezögert, als ich dieses zweite Beispiel nannte. Es kommt sehr darauf an, was man mit Menschenrechten alles meint. Wenn das bis in den pädagogisch-schulischen Bereich geht, etwa im Sinne von Recht auf Bildung, Recht auf Erziehung, nein. Wenn Sie die Rede von Menschenrechten aber zunächst einmal einschränken, etwa auf den Begriff der autonomen Person, dann meine ich, sind auch solche Einsprüche leicht zu ertragen.
Dies ist natürlich abhängig vom Menschenbild.
Naja, aber sehen Sie, wollen wir wieder ein Menschenbild zur Diskussion stellen, das es dem Einzelnen überlässt, sich in der Alternative von Herr und Knecht zu orientieren? Ich möchte das nicht empfehlen.
Letztlich gelangt man immer wieder bei ethischen Glaubenssätzen an, die wiederum einer Begründung bedürfen.
Sie haben Philosophie einmal als „Theorie der Begründung“ bezeichnet. Erschöpft sich Philosophie in der Aufgabe der Rechtfertigung von Zwecken und Zielen – oder wird „in Form von Wissenschaftstheorie Wissenschaft philosophisch und Philosophie wissenschaftlich“?
Das war damals der Konstruktivismus auf die Spitze getrieben. Ich erinnere mich sehr wohl an diese Formulierung. Da habe ich, was ich gerne auch heute noch tue, bewusst pointiert formuliert. Mittlerweile glaube ich – vielleicht ist das jetzt mein höheres Alter, das mich dazu führt –, dass sich die Philosophie in solchen Definitionen und näheren Bestimmungen nicht erschöpft. So würde ich es denn auch heute wahrscheinlich nicht mehr sagen. Allerdings: An einem möchte ich gerne festhalten – und das besagt ja auch das Zitat, das Sie eben anführten: Ich sähe es gerne, wenn die akademische Philosophie an der Universität wieder näher an die Probleme auch der anderen Disziplinen herangerückt würde und wenn die anderen Disziplinen, die bisher sozusagen einen gepflegten Positivismus ausgebildet haben, wieder philosophischer würden. Denn ihre weitgehende Wirkungslosigkeit hat die Philosophie zum Teil selbst zu vertreten, insofern sie sich in eigentümlicher Vornehmheit aus dem Alltag der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – nicht immer, aber häufig – herausgezogen hat. Die Philosophie muss sich wieder stärker involvieren lassen oder sich stärker einmischen in das Alltagsgeschäft der Universität, der Wissenschaft, ja, und auch der Gesellschaft.
Ist es denn nicht gerade das Gegenteil von Einmischung, wenn Sie in einer Diskussion auf die Frage, ob wir es nicht nach Goethe so halten sollten, dass wir das Erforschliche erforschen und – aus ethischen Gründen – das Unerforschliche unerforscht lassen sollten, antworteten, dass, wer nicht das Unerforschliche zumindest probiere, beim Erforschlichen Durchschnitt bleibe?
Lassen Sie mich weiter ausholen und sagen: Wenn wir denn schon so genau wüssten, wo die Grenze zwischen dem Erforschbaren und dem Unerforschbaren läge, dann wären wir an dieser Stelle sehr viel klüger. Aber genau das wissen wir ja nicht. Und jede Entscheidung oder jede Behauptung, man wüsste das schon, jeder Versuch, eine solche Grenze definitiv zu ziehen, ist – mindestens dies! – dogmatisch. Das heißt, wir haben, ob wir das nun begrüßen oder nicht, nicht die Möglichkeit, viele unserer Probleme dadurch loszuwerden, dass wir sagen: Hier ist das Erforschbare, und hier haben wir sozusagen freie Wahl, dort ist das Nichterforschbare, und da gehen wir nicht hin, das steht auch nicht zur Disposition und da halten wir uns raus. So ist die Welt nicht. Schon gar nicht so dualistisch. Das eigentliche Problem liegt eben genau darin, immer wieder aufs Neue eine solche Linie zu ziehen – warum nicht? Es wird sich dabei auch herausstellen, dass es sich da um keine festen Linien handelt und dass es die Forschung selber ist, die alle gezogenen Linien immer wieder übersteigt.
Das heißt, provokant auf einen Nenner gebracht: Die Forscher, zum Beispiel die Gentechniker, forschen und zeigen dadurch die Problematik des Ganzen auf, ohne jegliche Kontrolle?
Nein, das wollte ich damit nicht gesagt haben. Meine Vorstellung ist eher die, dass wir uns sehr wohl, und vielleicht sehr viel stärker, als das früher der Fall war, in unserem Forschen und Tun, für das wir mit Recht Freiheit reklamieren, immer wieder die Frage stellen, ob, unter anderem aus schlicht forschungssystematischen Gesichtspunkten, das, was wir da tun – noch einmal: Wissenschaft ist Tun! –, nicht Grenzen ganz anderer Art überschreitet, nämlich ethische Grenzen. Das heißt konkret gesprochen, ob zum Beispiel Forschung an Embryonen, insbesondere dann, wenn diese auch noch eigens zu Forschungszwecken hergestellt werden, nun aus anderen als wissenschaftssystematischen Gründen vielleicht doch verboten sein sollte, weil wir nämlich Grenzen verletzen, die keine Forschungsgrenzen sind, sondern ethische Grenzen.
Aber wer definiert diese ethischen Grenzen?
Wenn wir so etwas hätten wie eine allgemeingültige Ethik oder eine göttliche Ethik, dann wäre diese Frage einfach zu beantworten. Wir haben sie nicht. Ethik ist auch kein Lehrbuchwissen, das wir irgendwo in einem entsprechenden Buch nachschlagen könnten.
Die Welt wäre sicherlich einfacher, wenn sich auch in unserem Tun, auch in unserem wissenschaftlichen Tun, irgendwelche Gesetzmäßigkeiten einfach durchsetzten, keine normativen Spielräume mehr gegeben wären. Aber was wäre das für eine komische Welt? In dieser Welt müsste sich ja der Mensch als ein verantwortungsvolles, rationales Wesen selber verabschieden. Also lieber diese Kontingenz, lieber diese Spielräume, lieber die Möglichkeit zu scheitern und sich zu irren, als in einer Welt zu leben, in der Naturgesetzmäßigkeiten auch die Welt unseres Tuns bestimmen.
Wir müssen uns auch in ethischen Dingen immer wieder aufs Neue des begründeten Charakters