Das grüne Gesicht. Gustav Meyrink
Читать онлайн книгу."Na, wenn sie das nicht merkt!" dachte Hauberrisser und blickte scheu nach der Furie, – zu seiner Überraschung
lächelte sie bloß besänftigt – "Pfeill hat leider recht, die Menge kennt Goethe nicht nur nicht, sie verehrt ihn sogar; je
falscher man ihn zitiert, desto tiefer fühlen sie sich in seinen Geist eingedrungen."
"Ich finde, Myfrouw", wandte sich Pfeill wieder an die Gnädige, "man überschätzt mich in Ihren Kreisen als –
Philantropf. Mein Vorrat an Flaschenstanniol, der den Invaliden so mangelt, ist wesentlich geringer, als es den
Anschein hat, und wenn ich auch – obwohl, ich versichere, unwissentlich – einmal in einem Mildherzigkeitsklub
hineingetreten bin und mir der Geruch eines öffentlichen Samaritercharakters gewissermaßen anhaftet, so gebricht es
mir leider doch an ausreichend stählernem Gesinnungsmark, um der internationalen Prostitution die Einnahmsquelle zu
verstopfen, und ich möchte mich in dieser Hinsicht des Mottos bedienen: Yoni soit, qui mal y pense. – Was ferner das
Steuer des Mädchenhandels anbelangt, so fehlt es mir gänzlich an Beziehungen zu den leitenden Kapitänen dieser
Organisation, denn ich hatte niemals Gelegenheit, die höheren Beamten der Sittenpolizei im Ausland – vertraulich
kennenzulernen."
"Aber unbrauchbare Sachen für Kriegswaisen werden Sie doch haben, Baron?"
"Ist denn die Nachfrage nach unbrauchbaren Sachen seitens der Kriegswaisen so groß?"
Die Gnädigste überhörte die spöttische Gegenfrage oder wollte sie überhören. "Ein paar Eintrittskarten für die große
Redoute, die im Herbst stattfindet, müssen Sie aber zeichnen, Baron! Der vermutliche Nettoerlös, der im nächsten
Frühjahr verrechnet wird, soll der Gesamtheit aller Kriegsbeschädigten zugute kommen. Es wird ein
aufsehenerregendes Fest werden, die Damen sämtlich maskiert, und die Herren, die mehr als fünf Eintrittskarten gelöst
haben, bekommen den Barmherzigkeitsorden der Herzogin von Lusignan an den Frack."
"Freilich, eine Redoute dieser Art bietet viel Reiz", gab Baron Pfeill sinnend zu, "zumal bei derlei maskierten
Wohltätigkeitstänzen oft im weit ausgreifenden Sinne der Nächstenliebe die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut,
und es den Reichen begreiflicherweise ein dauerndes Vergnügen bereiten muß, daß der Arme auf die große
Abrechnung zu – warten hat, aber andererseits bin ich nicht Exhibitionist genug, um den Nachweis fünfmal öffentlich
betätigten Mitgefühls aus dem Knopfloch heraushängen zu lassen. – Natürlich, wenn Frau Konsul darauf bestehen – –
–"
"Kann ich also fünf Karten für Sie bereithalten?"
"Wenn ich bitten darf: nur vier, Myfrouw!"
* * *
"Herr, gnädiger Herr, gnä–diger Herr Baron!" hauchte eine Stimme, und eine winzige schmutzige Hand zupfte Baron
Pfeill schüchtern am Ärmel. Als er sich umdrehte, sah er ein kleines, ärmlich gekleidetes Mädchen mit eingefallenen
Wangen und weißen Lippen, das sich zwischen den Oleanderkübeln hindurch an ihn herangeschlichen hatte und ihm
einen Brief hinhielt, vor sich stehen. Sofort wühlte er in seinen Taschen nach Kleingeld.
"Der Großvater draußen läßt sagen – – –"
"Wer bist du denn, Kind?" fragte Pfeill halblaut.
"Der Großvater, der Schuster Klinkherbogk, läßt sagen, ich bin sein Kind", verwirrte das Mädchen die Antwort mit
dem Auftrag, den es überbringen sollte, "und der Herr Baron hat sich geirrt. Statt der zehn Gulden für die letzten Paar
Schuhe waren tausend – – –"
Pfeill wurde blutrot, klapperte heftig mit seiner silbernen Zigarettendose auf den Tisch, um die Worte der Kleinen zu
übertönen, und sagte laut und brüsk: "Da hast du zwanzig Zents für den Weg", mit milderem Ton hinzufügend, es sei
schon alles recht – sie solle nur wieder nach Hause gehen und den Brief nicht verlieren.
Gleichsam als Antwort, daß das Kind nicht allein gekommen sei – der Sicherheit wegen von seinem Großvater
begleitet, damit es auf dem Wege zum Kaffeehaus das Kuvert mit der Banknote nicht verlöre –, tauchte eine Sekunde
lang zwischen den sich teilenden Efeustauden das totenblasse Gesicht eines alten Mannes auf, der augenscheinlich die
letzten Sätze gehört hatte und vor Ergriffenheit unfähig, ein Wort hervorzubringen, mit schlotterndem Unterkiefer und
gelähmter Zunge ein leises röchelndes Lallen ausstieß. – – –
Ohne den Vorgängen irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, hatte die wohltätige Dame die Eintragung
der vier Ballkarten in eine Rolle vorgenommen und sich nach ein paar kühl verbindlichen Worten empfohlen. – –
Eine Weile saßen die beiden Herren stumm, wichen einander mit den Blicken aus und trommelten gelegentlich mit
den Fingern auf den Stuhllehnen.
Hauberrisser kannte seinen Freund zu gut, um nicht genau zu fühlen: er brauche jetzt nur zu fragen, was für eine
Bewandtnis es mit dem Schuster Klinkherbogk habe, und Pfeill würde gereizt das Blaue vom Himmel
herunterphantasieren, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er hätte einem armen Schuster aus bittrer
Not geholfen. Dann sann er, um ein möglichst abseits liegendes Gespräch einzuleiten, nach einem Thema, das –
selbstverständlich – nichts mit Wohltätigkeit oder einem Schuster zu tun haben durfte, aber andererseits auch nicht so
klingen sollte, als sei es an den Haaren herbeigeholt.
So lächerlich leicht die Aufgabe zu sein schien – sie wurde ihm von Minute zu Minute schwerer.
"Es ist eine verwünschte Sache mit dem 'Gedankenfassen'", überlegte er, "man glaubt, man bringt sie mit dem Gehirn
hervor, aber in Wirklichkeit machen sie mit dem Gehirn, was sie wollen, und sind selbständiger als irgendein
Lebewesen." Er gab sich einen Ruck. "Sag mal, Pfeill", (das Traumgesicht, das er in dem Vexiersalon gehabt hatte,
war ihm plötzlich eingefallen) "sag mal, Pfeill, du hast ja so viel im Leben gelesen: Ist die Sage vom Ewigen Juden nicht
in Holland entstanden?"
Pfeill blickte argwöhnisch auf. – "Du meinst, weil er ein Schuhmacher gewesen ist?"
"Schuhmacher? Wieso?"
"Nun, es heißt doch, der Ewige Jude sei ursprünglich der Schuster Ahaschwerosch in Jerusalem gewesen und habe
Jesus, als er auf seinem Weg nach Golgatha – der Schädelstätte – ausruhen wollte, mit Flüchen fortgejagt. Seitdem
müsse er selbst wandern und könne nicht sterben, ehe nicht Christus wiedergekommen sei." (Als Pfeill bemerkte, daß
Hauberrisser ein äußerst verblüfftes Gesicht machte, erzählte er hastig weiter, um auch seinerseits so rasch wie möglich
von dem Thema "Schuster" loszukommen.) "Im dreizehnten Jahrhundert behauptete ein englischer Bischof, in
Armenien einen Juden namens Kartaphilos kennengelernt zu haben, der ihm anvertraut hätte, zu gewissen Mondphasen
verjünge sich sein Körper, und er sei dann eine Zeitlang Johannes der Evangelist, von dem Christus