Erzählungen. Rainer Maria Rilke
Читать онлайн книгу.Wenn man sich ... wirklich ...
Aber im allerersten Morgengrauen saß er fröstelnd in den Kissen und wußte bestimmt: Ich mag Anna nicht mehr. Sein Kopf war so schwer: Ich mag Anna nicht mehr. War das ihr Ernst? Um ein paar Schläge auf und davon laufen. Wohin denn? Er sann nach, als hätte sie's ihm anvertraut: Wohin wollte sie denn? Irgendwohin, irgendwohin. Er empörte sich: Und ich? Ich sollte natürlich alles im Stiche lassen, meine Eltern und alles. Oh und die Zukunft, das Hernach. Wie dumm das war von Anna, wie häßlich. Ich möchte sie schlagen, wenn sie das imstande wäre.
Wenn sie das imstande wäre.
Als ihm die frühe Maisonne, so recht hell und heiter, in die Stube kam, hoffte er: Sie kann es nicht ernst gemeint haben. Er beruhigte sich ein wenig und hatte viel Lust, im Bett zu bleiben. Allein er sagte sich: Auf den Bahnhof will ich gehen, und sehen, daß sie nicht kommt. Und er malte sich die Freude aus, wenn Anna nicht kommt.
Fröstelnd in der frühen Frische und mit großer Müdigkeit in den Knien ging er auf den Bahnhof. Die Vorhalle war leer. Halb ängstlich, halb hoffnungsvoll hielt er Umschau. Keine gelbe Jacke. Fritz atmete auf. Er durchlief alle Gänge und Säle. Reisende gingen verschlafen und teilnahmslos auf und nieder, Gepäcksdiener lümmelten an hohen Säulen, und Leute aus der untersten Klasse saßen verdrossen, an Bündel und Körbe gelehnt, auf staubigen Fensterbänken. Keine gelbe Jacke. Der Portier rief irgendwo in einem Wartesaal Ortsnamen. Er läutete mit einer schrillen Glocke. Dann schnarrte er dieselben Ortsnamen ganz nah und dann noch einmal auf dem Bahnsteig. Und immer läutete davor die häßliche Glocke. Fritz wandte sich und schlenderte, die Hände in die Taschen bohrend, in die Vorhalle des Bahnhofes zurück. Er war sehr zufrieden und dachte mit Siegermiene: Keine gelbe Jacke. Ich wußte es ja.
Wie im Übermut trat er hinter eine Säule. Er wollte den Fahrplan studieren, um zu erfahren, wohin denn dieser verhängnisvolle Sechsuhrzug eigentlich führe. Er las mechanisch die Stationen und machte ein Gesicht wie einer, der eine drollige Treppe besieht, auf der er fast gestürzt wäre. Da klappten schnelle Schritte auf den Fliesen. Als Fritz aufschaute, erhaschte sein Blick eben noch an der Perrontüre die kleine Gestalt in der gelben Jacke und dem Hute, auf welchem eine Rose schwankte. Fritz starrte ihr nach.
Dann überkam ihn eine Furcht vor diesem schwachen, blassen Mädchen, welches mit dem Leben spielen wollte. Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren, raffte er sich auf und lief, so schnell er konnte, ohne sich umzusehen, der Stadt zu.
Weißes Glück
Der Assekuranzbeamte Theodor Fink fuhr von Wien an die Riviera. Unterwegs entdeckte er in seinem Handbuch, daß er mitten in der Nacht in Verona ankomme und dort zwei Stunden auf Anschluß warten müsse. Das war ein übriges, welches keineswegs beitrug, seine Stimmung zu verbessern. Er zündete sich eine Zigarette an, fand den Rauch unerträglich und schleuderte sie in weitem Bogen aus dem Fenster; seine Blicke folgten dem glimmenden Punkt in die blasse, nichtssagende Märzlandschaft, in deren tiefsten Talstellen Schneereste wie schmutzige Kissen lagen. Das langweilte ihn ebenso wie der gelbe Roman, der neben ihm auf dem Sitz lag, und mürrisch nahm er zum zehnten male den Brief vor, welchen sein kranker Bruder ihm aus Nizza geschrieben hatte. Je öfter er die hastigen unsteten Zeilen las, desto deutlicher schien ihm, daß es der Ruf eines Sterbenden sei, dem er folgte. Und ihm wurde immer unbehaglicher. Er hatte für den um sieben Jahre jüngeren, spätgeborenen Bruder niemals viel übrig gehabt, denn das Kränkliche, Zerbrechliche an ihm war ihm abstoßend, und das Überfeine seiner Empfindung hatte für ihn etwas Unheimliches und Fremdes. Er fürchtete diese bevorstehenden Tage mit den vielen Aufregungen und Mühseligkeiten und empfand nebenbei aufrichtiges Mitleid, welches er allerdings dadurch zu lindern suchte, daß er immer wieder dachte: »Es wäre ja ein Glück für ihn. Wenn man krank ist.« Darüber schlief er ein.
Durchgerüttelt, mit schmerzenden Gliedern und sehr verschlafen, stieg er als einziger in ›Verona vecchia‹ aus und folgte dem schweigsamen Portier in den Wartesaal zweiter Klasse. An den hohen Glastüren ließ ihn der Führer stehen. Theodor Fink stieß den Türflügel mit dem Ellbogen auf und wartete an der Schwelle, bis seine Augen sich in dem Dunkel des Raumes zurechtfanden. Allmählich erkannte er die Bogentüren, welche ihm gegenüber auf den Bahnsteig hinausführten, und etwas, was wie ein vielhöckeriges Ungetüm auf vier stämmigen Beinen in der Mitte des Saales stand; es war ein Tisch, mit vielen Gepäckstücken bedeckt. Endlich gewahrte Fink auch die Bänke, welche die Wände rings begleiteten, und er schob sich bis zu der nächsten nach vorwärts, um dort seinen unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Er tastete die Bank hin, und gerade, als er sich neigte, ging draußen jemand mit einer Laterne vorbei, und ein Schimmer zuckte herein und beleuchtete flüchtig das bärtige Gesicht eines schlafenden Mannes. Fink wurde nüchtern und stieß einen Fluch aus. Seine Stimme klang in der Halle lauter, als er es erwartet hatte, und wie eine Antwort kam es aus allen Ecken: ein Stöhnen, ein streckendes Rühren, ein Knarren der Bank, ein tonloses irres Traumwort. Der Ankömmling blieb einen Augenblick wie gebannt. Er dachte: also hier schlafen schon überall Leute. Dann ging er die Wände entlang. In der Nähe der dunkelsten Ecke fühlte er einen freien Platz, und dort ließ er sich wie erschöpft nieder. Er blieb sitzen und wagte nicht den Versuch, die Füße auszustrecken; er war überzeugt, daß zu seiner Rechten und zu seiner Linken Menschen lagen, und scheute sich, sie zu berühren. Er verharrte reglos, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Lider waren schwer und sanken langsam, aber er riß sie immer nach kurzem wie in jähem Schrecken wieder auf und mußte sich zurechtfinden in dem ungastlichen Raum, über dessen Dielen dann und wann Lichter, wie Möwen, huschten. Fink atmete tief auf, als die Türe, durch welche er eingetreten war, knarrte. Vom matten, rötlichen Dämmer des Ganges hoben sich zwei oder drei Gestalten als Schatten ab. Neue Reisende kamen in den Saal. Die Türe fiel hinter ihnen zu, und Fink mühte sich, die Gestalten zu verfolgen. Aber stumm und lautlos lösten sie sich in dem schweren Dunkel, und nur das Knarren einer Bank ließ vermuten, daß sie sich irgendwo niedergelassen haben mußten. Es blieb wieder still. Allein Fink fand, in seiner übermüdeten Spannung, tausend Geräusche und ging ihnen nach und fühlte in jedem Laut etwas Fremdes und Feindliches. Ihm war, als drängten sich alle die Menschen immer näher an ihn heran, und die Dunkelheit um ihn wurde körperhaft, so daß er endlich hastig ein Zündholz anstrich und erleichtert aufatmete, als er die große, schwarze Leere vor sich erkannte. Gleichwohl entzündete er immer noch eines, um sich ganz zu beruhigen. Als eben wieder ein neues knisternd auflohte, klang eine Stimme aus der Ecke: »Das blendet so, verzeihen Sie.« Fink lauschte dem leisen Wohlklang. Dann leuchtete er ganz unwillkürlich mit dem tiefgebrannten Spänchen der Stimme nach und glaubte flüchtig ein dichtverschleiertes Frauengesicht zu sehen. Dann verlöschte das Licht, und er saß wieder im Dunkel und wartete auf die Stimme. Und sie kam: »Es ist furchtbar, mit vielen Fremden eine Nacht im selben Raum zu sein. Nicht wahr? Die Menschen sind so seltsam in der Nacht, und ihre Geheimnisse wachsen über sie hinaus. Es ist furchtbar. Aber Licht blendet so.« Fink fühlte, daß die liebe leise Stimme das ausgesprochen hatte, was ihn ängstigte. Aber der letzte Satz, der wie eine Entschuldigung klang, nahm ihm plötzlich alles Unheimliche, und er wußte, daß eine junge, vielleicht sogar eine schöne Frau neben ihm saß, und war mit einemmal angeregt von der Möglichkeit, die Wartestunden durch ein kleines Abenteuer zu verkürzen.
Er drehte unwillkürlich seinen Schnurrbart und neigte sich zuvorkommend gegen die dunkle Ecke: »Gnädige reisen auch hinunter nach Nizza?«
»Nein, ich kehre zurück in meine Heimat.«
»Schon im März? Es ist noch sehr kalt in Deutschland. Da sind Sie wohl nicht krankheitshalber unten gewesen?«
»Oh, ich bin krank.« Das sagte sie traurig, aber versöhnt. Fink schwieg erstaunt und verlegen. Seine Augen suchten durch das Dunkel, aber er konnte nichts erkennen. Die Luft war dunstig und dick. Aus irgend einem Traum stieg ein Stöhnen, und draußen klang die Klingel wie ein Heimchen.
Um etwas zu erwidern, sagte Fink: »Ich bin nicht krank. Aber mein Bruder. Es geht ihm schlecht in Nizza; deshalb fahre ich hin.«
Aus dem Dunkel kams: »Oh bringen Sie ihn mit zurück. Auch wenn es ihm schlecht geht. Dort in dem frühen Frühling ist alles traurig. Das Leben und das Sterben...«