Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab

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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil - Gustav  Schwab


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wenn du den Flug zu sehr nach unten senktest, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von

       Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder wenn du dich zu hoch in die

       Luftregion verstiegest, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange.

       Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.« Unter

       solchen Ermahnungen knüpfte Dädalos auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch

       zitterte die Hand des Greisen, während er es tat, und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand.

       Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch sein letzter sein sollte.

       Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der eine

       zarte Brut zum erstenmal aus dem Neste in die Luft fährt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll

       das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu

       sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken,

       bald Delos und Paros, die Eilande, vorüberflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der

       Knabe Ikaros, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ

       und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Aber die

       gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzukräftigen Strahlen

       das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel

       aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und

       schwang seine nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe.

       Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn aussprechen konnte,

       hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen. Das alles war so schnell geschehen, daß Dädalos, hinter

       sich nach seinem Sohne, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, blickend, nichts mehr von ihm

       gewahr wurde. »Ikaros, Ikaros!« rief er trostlos durch den leeren Luftraum: »Wo, in welchem Bezirke

       der Luft soll ich dich suchen?« Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da

       sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt,

       ohne Trost am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den Leichnam seines unglücklichen

       Kindes ans Gestade spülten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelnde Vater sorgte

       für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen und wo der Leichnam ans

       Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das

       Eiland den Namen Ikaria.

       Als Dädalos seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieser Insel weiter nach der großen Insel

       Sizilien. Hier herrschte der König Kokalos. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gastliche

       Aufnahme, und seine Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen

       künstlichen See, den er gegraben und aus dem ein breiter Fluß sich in das benachbarte Meer ergoß;

       auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstürmen war und wo kaum ein paar Bäume Platz zu haben

       schienen, setzte er eine feste Stadt und führte zu ihr einen so engen und künstlich gewundenen Weg

       empor, daß drei oder vier Männer hinreichten, die Feste zu verteidigen. Diese unbezwingliche Burg

       wählte dann der König Kokalos zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das dritte Werk des Dädalos auf

       der Insel Sizilien war eine tiefe Höhle. Hier fing der den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt

       auf, daß der Aufenthalt in einer Grotte, die sonst feucht zu sein pflegte, so angenehm war wie in

       einem gelinde geheizten Zimmer und der Körper allmählich in einen wohltätigen Schweiß kam, ohne

       dabei von der Hitze belästigt zu werden. Auch den Aphroditentempel auf dem Vorgebirge Eryx

       erweiterte er und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunst

       ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuschend ähnlich sah.

       Nun erfuhr aber König Minos, dessen Insel der Baumeister heimlich verlassen hatte, daß Dädalos sich

       nach Sizilien geflüchtet habe, und faßte den Entschluß, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu

       verfolgen. Er rüstete eine ansehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier

       schiffte er seine Landtruppen aus und schickte Botschaften an den König Kokalos, welche die

       Auslieferung des Flüchtlings verlangen sollten. Aber Kokalos war über den Einfall des fremden

       Tyrannen entrüstet und sann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er stellte sich an, als ginge er

       auf die Absichten des Kreters ganz ein, versprach ihm in allem zu willfahren, und lud ihn zu dem Ende

       zu einer Zusammenkunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gastfreundschaft von Kokalos

       aufgenommen. Ein warmes Bad sollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der

       Wanne saß, ließ Kokalos diese so lange heizen, bis Minos in dem siedenden Wasser erstickte. Die

       Leiche überließ der König von Sizilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem

       Vorgeben, der König sei im Bade ausgeglitten und in das heiße Wasser gefallen. Hierauf wurde Minos

       von seinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent bestattet und über seinem Grabmal ein offener

       Aphroditentempel erbaut. Dädalos blieb bei dem Könige Kokalos in ununterbrochener Gunst; er zog

       viele und berühmte Künstler und wurde der Gründer seiner Kunst auf Sizilien. Glücklich aber war er

       seit dem Sturze seines Sohnes Ikaros nicht mehr, und während er dem Lande, das ihm Zuflucht

       gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Ansehen durch die Werke seiner Hand verlieh, durchlebte

       er selbst ein kummervolles und trübsinniges Alter. Er starb auf der Insel Sizilien und wurde dort

       begraben.

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