Gottes kleiner Partner. Leo Gold
Читать онлайн книгу.Wenn es um die Sache ging, zählte das beste Argument, unabhängig davon, ob es vom Praktikanten, Bauzeichner, Kollegen, einem meiner Chefs oder mir kam. – Das Bild vom Staatsanwalt und Richter passt ganz gut. Ich bereite die Entscheidungsgrundlage vor und Direktor Saalfeld beschließt sie mit den anderen Gremienmitgliedern.“
„Der Vergleich gefällt mir“, sagte Pfarrer Schatz, um gleich darauf eine weiterführende Frage zu stellen, weil er weiterhin den Anschein vermeiden wollte, er würde Julius Anstellung zu früh seine Zustimmung geben:
„Wenn Direktor Saalfeld der Richter ist, welche Rolle schreiben sie mir zu?“
„Bei manchen Prozessen ist es ja üblich, dass es mehrere Richter gibt, von denen einer der Vorsitzende ist. Dieser wären dann sie.“
Da Pfarrer Schatz auf diese Antwort nicht gleich eine Reaktion einfiel, wechselte er das Thema:
„Wie sie sicherlich wissen, überschneiden sich die Sphären von Staat und Kirche in vielen Bereichen. Was denken sie darüber?“
Mit dieser Frage wollte Pfarrer Schatz Julius kirchliches Wissen testen. Dieser hatte wenige Monate zuvor einen Zeitungsartikel gelesen, der von dem Thema handelte, nach dem er nun gefragt wurde. Es wurde dargelegt, weshalb die Kirche überzeugt sei, mit weltlichen Gruppen nicht vergleichbar zu sein. Sie verstehe sich als Gemeinschaft ‚sui generis‘ (eigener Art). Julius verstand, dass die Kirche ihre Stellung durch die Betonung der Unterschiedlichkeit zu anderen Vereinen und Gruppen zu sichern versuchte.
Er wunderte sich aber, weshalb sich einige Verantwortliche der Kirche von der Welt abkehrten, anstatt auf sie zuzugehen und sich auf die Gemeinsamkeiten mit ihr zu konzentrieren und so unter Beweis zu stellen, dass sie die wahre Kirche Jesu Christi sei, wie es in dem Artikel hieß. Auf der Basis der Zusage Jesu Christi, die Kirche gehe nicht unter, könne sie doch gelassener auftreten, dachte Julius. Direktor Saalfeld schaute zu ihm und sagte:
„Pfarrer Schatz möchte ihre Kirchlichkeit testen. Passen sie auf!“
Pfarrer Schatz mochte es nicht, dass Direktor Saalfeld seinen Vorstoß entschärfte und entgegnete ihm:
„Sie brauchen unseren möglichen Kollegen nicht warnen! Er wird sich selbst verteidigen können.“
Julius erzählte den beiden, was er in dem Artikel gelesen hatte, ohne dessen Quelle zu nennen. Da er die Arbeitsstelle bekommen wollte, verwies er auf die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat und ließ bei der Zusammenfassung auch den Fachbegriff ‚sui generis‘ fallen.
„Sie sind ein aufmerksamer Zeitungsleser“, stellte Pfarrer Schatz fest, bevor er wissen wollte: „Ab und zu kann die Tätigkeit des Abteilungsleiters für Bauangelegenheiten auch stressig sein. Wie gehen sie mit Stress um?“
„Wenn es Stress gibt, bekomm ich hohen Blutdruck und versuch, das Problem, das ihn verursacht, so schnell es geht zu lösen.“
Pfarrer Schatz lachte. Er war froh, dass es seinen Provokationen endlich gelungen war, Julius die spontane Reaktion mit dem ‚hohen Blutdruck‘ zu entlocken. Er hakte nach:
„Und können sie abends abschalten und ruhig schlafen? Wir wollen nicht, dass sie wegen uns krank werden.“
Julius antwortete und log dabei:
„Ich schlafe wie ein neugeborenes Baby.“
Es war eine seiner Schwächen, dass er eben nicht abschalten konnte und mehrmals in der Nacht aufwachte, wenn ihn beruflicher Ärger belastete. Aber da Pfarrer Schatz genaue Antworten liebte und Julius in dieser Situation, hätte er die Wahrheit gesagt, diese hätte erklären müssen, zog er die Unwahrheit vor.
„Hoffentlich wie ein Neugeborenes ohne Koliken, lieber Dr. Zey! Jetzt lasse ich es dabei bewenden. Keine Sorge. Müssen wir noch mehr wissen?“, fragte Pfarrer Schatz Direktor Saalfeld, der kurz überlegte, bis er sagte:
„Ist es dabei geblieben, dass sie in zwei Monaten zum 1. Mai ihren Dienst antreten können? Die nächsten zwei Monate können wir überbrücken. Aber dann warten eine Menge Termine, für die wir Unterstützung brauchen.“
„Ja, der 1. Mai ginge.“
„Prima. Dann hab ich von meiner Seite keine weiteren Fragen mehr. Sobald wir unsere Entscheidung getroffen haben, ruf ich sie an.“
Noch am selben Abend, Julius saß gerade mit Rosa im Kino, klingelte sein Handy und Direktor Saalfeld teilte ihm mit, dass er sich auf die Zusammenarbeit mit ihm freue und im Namen von Pfarrer Schatz freundliche Grüße ausrichten solle.
1
Die Einfahrt des Zuges, der aus der nahen Großstadt kam, verzögerte sich. Aufgeregt schaute Julius auf die Uhr. Er wippte auf der Stelle hin und her, bis er die Spannung nicht mehr ertrug und anfing, den Bahnsteig entlang zu laufen.
Eine Frau fiel ihm auf. Sie trug einen beigen Frühlingsmantel. Aus einer Plastikflasche, die mit Wasser gefüllt war, trank sie einen kräftigen Schluck. Sodann schob sie die Flasche in ihre Umhängetasche und strich mit der Hand über ihren Mund. Sie passierend konnte Julius ihr Gesicht genauer erkennen. Es war schmal, hatte kaum sichtbare Lippen und kleine Augen, die in tiefen Augenhöhlen ruhten.
Nachdem der verspätete Zug an Julius Wohnort gestoppt und die Reisenden aufgenommen hatte, setzte er sich an ein Fenster. Er zog die Schuhe aus, stellte seine Tasche links neben sich, warf den Mantel darüber und legte seine Beine auf die Sitzfläche gegenüber.
Die Sonne bewegte sich noch hinterm Horizont. Julius hätte die zunehmende Geschwindigkeit des Zuges am liebsten gedrosselt. Eilig, nicht aufzuhalten, verließ er die Stadt. Die Gegend, durch die die Schienen führten, wurde weitläufiger. Die vorbeiziehenden Häuser der Kleinstädte und Dörfer standen hingegen zusehends dichter beieinander, je tiefer der Zug in die Provinz vordrang. Liebevoll hatten die Besitzer ihre Grundstücke gepflegt, Obstbäume, Gemüse und bunte Blumen gepflanzt.
Die Entfernung zur Bischofsstadt verringerte sich. An den Bahnhöfen mit ihren pastellfarben angestrichenen Gebäuden, dessen Fensterbretter Blumenkästen mit ausladenden Geranien schmückten, warteten laute Schülergruppen, die zum Gymnasium in der Bischofsstadt fahren wollten.
Vorbeugend nahm Julius seine Beine von der Sitzfläche und zog die Schuhe wieder an. Obgleich sich schon vereinzelt Schüler in den Gängen aufhielten, traute sich keiner von ihnen, sich neben ihn zu setzen. Sie musterten ihn in einer Mischung aus kindlichem Zutrauen wie zweifelndem Argwohn. Die Sorge überwog das Vertrauen. So suchten sie lieber weiter nach freien Plätzen. Am vorletzten Halt kam ein weiterer Schwung Schüler herein. Eine Jugendliche taxierte Julius. Dann fragte sie ihn, ob die Plätze noch frei seien und setzte sich mit ihrer Freundin dazu. Die zwei unterhielten sich wieder und beachteten ihn nicht mehr.
Als der Zugführer an der Endstation schließlich die Türen freigab, steigerte sich der Lärmpegel zum Höhepunkt. Johlend strömten die Schüler auf den Bahnsteig, indes die Berufspendler, die mit demselben Zug in gegensätzlicher Richtung zurück in die Großstadt fuhren, unruhig darauf warteten, ihre Lieblingsplätze zu besetzen.
Unweit des Bahnhofs war der Verband zusammen mit den Büros von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Arztpraxen in einem mehrstöckigen Haus untergebracht. Seine rund 100 Angestellten arbeiteten in den obersten drei Stockwerken, Etage acht bis zehn.
Ein Drittel der Fläche des zehnten Stockwerks umfassten die beiden Büros von Pfarrer Schatz und Direktor Saalfeld sowie die zwei Vorzimmer, in denen die Chefsekretärinnen arbeiteten. Dieser Bereich war mit dunkelblau getönten Glaswänden uneinsehbar abgegrenzt. Auf dem verbleibenden Raum der Etage verteilten sich die Büros der anderen Direktionsmitarbeiter, die durchsichtige Glaswände voneinander trennten. Diese wurden in der Schallschutzversion eingebaut, so dass die Mitarbeiter akustisch ungestört arbeiten konnten.
Damit sie zudem optisch unbehelligt blieben, entwickelten manche Mitarbeiter einen beachtlichen Einfallsreichtum: Sie stellten im richtigen Winkel Flipcharts auf, um die Bildschirmfläche von fremden Blicken zu schützen. Bücherregale hielten ihnen den Rücken frei, was ihre Konzentration