Neue Zeiten - 1990 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.„Nix Großes.“
„Heißt was?“
„Dieses Jahr werden wir keinen Gewinn machen!“
Ich stutzte. Nach meiner Berechnung mussten im ersten Jahr bereits 120 000 Mark Gewinn übrigbleiben.
„Kein Gewinn? Wir beide hatten doch alles durchkalkuliert; an den Zahlen hat sich nichts geändert.“
Meinem guten Freund war es nun offensichtlich sehr unangenehm, dass ich dieses Thema angeschnitten hatte. So begann nun ein merkwürdiges Daherlabern, das ich von ihm noch nicht kannte. „Tja, also … wenn eine Firma neu ist … bla bla bla …na gut, oh nein, weißt du … also es braucht alles seine Zeit … äh, aber nein doch, äh, da kann man keine Prognose … äh … also wahrscheinlich …, vielleicht dauert es noch etwas, ich nehme an …“ So also sprach mein Geschäftspartner und Freund, der sonst flüssig und mit klug gewählten Worten sich klar auszudrücken vermochte. Ein Mann, für den konkrete Zahlen kein Tabu waren.
Für mich war es ein frühmorgendliches Déjà-vu. Frau Schmittmann aus Bonn ließ grüßen. Gab es auch bei Jan irgendwelche Geheimnisse? Vielleicht Gewissensbisse? Wenn ja, weshalb? Ein Jahr später sollte ich den Hintergrund auch seiner merkwürdigen sprachlichen Verrenkungen begreifen.
Mitte März erreichte mich Quinys Brief aus Irland. Er war abgestempelt in Derrybeg im Norden der Republik Irland. Quiny war eine treue Seele; seitdem wir uns aus der Wohngemeinschaftszeit 1972 in Westberlin kannten, hatte sie Kontakt zu mir gehalten. Einer unserer zahlreichen gemeinsamen Freunde war Rolf, der sich damals mit Mitte Zwanzig krankgetrunken hatte. Da hatte es Quiny nicht mehr bei ihm ausgehalten. Es war ein großer und schicksalhafter Bruch gewesen. Danach war sie mit Wolle zusammen gewesen, hatte ihren Kindergarten-Job aufgegeben und sich mit ihrem neuen Freund auf den langen Hippie-Trail nach Indien, Nepal und nach Thailand aufgemacht.
Einen großen Teil ihres jugendlichen Lebens hatten die beiden Bhagwans Sannyasin-Bewegung geopfert, waren ihm in die USA gefolgt und zuletzt enttäuscht von seinem luxuriösen Doppelleben und seiner Doppelmoral nach Westberlin zurückgekehrt.
Eine gemeinsame Freundin von uns war Svea, jene lebenslustige und hübsche Siebzehnjährige, die noch so vieles und so großes im Leben erreichen wollte, dann aber an falsche Freunde und an Drogen geriet. Gemeinsam hatten Quiny und unser gemeinsamer Freundeskreis alles unternommen, um Svea vom Heroin wegzubringen. Wenige Jahre später war Quiny ebenfalls mitgekommen, um Svea in Marokko zu suchen und zurück nach Westberlin in eine Klinik zu bekommen. Es war uns nicht geglückt.
Vor zwei Jahren, es war 1988, hatte mir Quiny aus London geschrieben, sie sei neu verliebt. Ja, sie sei irre verknallt in einen Iren namens Davy, was »Geliebter« bedeute. Ein Jahr später hatte sie sich aus Derrybeg gemeldet. Davy habe dort als Architekt eine Stelle gefunden, und sie arbeite in der Nähe in einem kleinen Dorf in einem neu eingerichteten Feriengebiet, aber auf historischem Terrain und mit urig altem, denkmalgeschütztem Häuserbestand. Das Innenleben der Häuser habe man natürlich vorsichtig renoviert und angemessen modernisiert. Sie sei bei lieben Leuten gelandet, die es verstünden, Urlaubssuchenden einen typisch irischen Urlaub zu arrangieren.
Jetzt schrieb sie: Hi Kara, wir haben uns gewiss so viel zu erzählen, dass dieses Brieflein niemals Platz genug für all die Worte, die wir aufbringen müssten, bieten könnte. Dann berichtete sie vier lange Seiten über die herrliche irische Landschaft, die irische Lebensweise und die lieben Menschen, die diese Insel bewohnten.
Ich dachte leider an den Nordirlandkonflikt, verdrängte aber die Gedanken an dieses blutige Kriegsgeschehen mitten im zivilisierten Westeuropa und las weiter: Ich nehme an, dass du immer noch so eingespannt bist in deine Unternehmen, wie du im Brief vom letzten Sommer berichtet hast. Dennoch finde ich: du musst uns mal unbedingt besuchen. Bring Emma und die Kurzen mit. Davy will euch unbedingt kennen lernen. Und glaub mir: Irland ist wunderschööön.
Liebe Grüße, Quiny & Davy
Fetter Brocken für die Allianz
Der Allianz-Versicherungskonzern kündigt am Mittwoch, noch während der Leipziger Messe, an, im Mai einen Anteil an der Staatlichen DDR-Versicherung zu übernehmen, genau das derzeit gesetzlich festgelegte Höchstmaß: 49 Prozent. Die »Staatliche« hat 1989 sieben Milliarden Ostmark an Prämien eingenommen und einen Gewinn von 1,7 Milliarden gemacht. Der Kaufpreis soll später verhandelt werden. Der Stellvertretende Generaldirektor Günter Ullrich und der Allianz-Unterhändler Uwe Haasen geben eine gemeinsame Pressekonferenz.
Die Öffentlichkeit ist überrascht. Die Versicherungswettbewerber sind entsetzt. In der ostdeutschen »Berliner Zeitung« vermutet ein Redakteur, dass die Vorverträge auf ungesetzliche Weise zustande gekommen sind. Sie seien „schlichtweg erkauft“. Den Vorwurf muss die Zeitung korrigieren, nachdem sich der Chef der »Staatlichen«, Hein, höchstpersönlich beim DDR-Presseamt über „diese Art der Berichterstattung“ beschwert hat. Im Radio kommentiert dies eine Hörerin mit der Bemerkung, dass man jetzt wohl „schon wieder nicht sagen darf, wie es ist. Natürlich kaufen die uns!“
Die Bundesregierung erhält bitterböse Protestschreiben von jenen bundesdeutschen Versicherungskonzernen, die nicht zum Zug gekommen sind. Eine Handvoll FDP-Politiker sind gegen den Allianz-Deal. Allerdings finden sie kein Gehör, schließlich sind die Allianz-Chefs in München aufs Beste mit den CSU-Großkopferten in der Bayrischen Staatskanzlei und ihrem Bonner Ableger, dem Bundesfinanzminister Theo Waigel, vernetzt.
Er wird die Vorstandssitzung der Allianz am 20. März besuchen und die Konzernzimmerei gutheißen. Zwar gebe es gewisse kartellrechtliche Bedenken, aber er sei der Überzeugung, dass die »Staatliche« im Wettbewerb mit der bundesdeutschen Versicherungsbranche nur mit einem starken Partner überleben könne. Das sei nun mal die Allianz. Damit ist die Sache geritzt.
Noch drei Tage bis zur alles entscheidenden Wahl. Matthias Artzt, Gerd Gebhardt, Werner Schulz und Wolfgang Ullmann, die Vordenker einer demokratisch agierenden Treuhandanstalt, kämpfen ihren letzten verbissenen Kampf für den Erhalt des Volkseigentums. Noch fordern die Bürgerrechtler Anteilsscheine am Runden Tisch ein. Artzt und Gebhardt diskutieren mit dem Staatssekretär Wolfram Krause über das Treuhandstatut. In diesem Statut – aber nicht im Treuhandgesetz – wird festgehalten: Es wird Vermögensurkunden geben.
Diesen Punkt erläutern Krause und Ullmann gemeinsam auf einer Pressekonferenz. Man schätze das Vermögen der DDR auf 650 Milliarden Ostmark. An 25 bis 30 Prozent der Industrie wolle man die Bürger in Form von Aktien beteiligen. Das würde bedeuten, so erklärt Ullmann der Presse, dass jeder DDR-Bürger einen Anteilsschein im Wert von 40 000 Ostmark erhalte. In einem Volksentscheid soll die DDR-Bevölkerung über die Verwendung des Volksvermögens entscheiden.
Die anwesenden Westjournalisten stellen skeptische Fragen zu den Anteilsscheinen: Wie könne man denen einen Wert beimessen? Ullmann hat keine Antwort parat. Das werde sich ergeben, sagt er. Wolfram Krause dagegen gibt sich selbstbewusst: Das Parlament würde diesen Prozess und die Treuhand selbstverständlich kontrollieren.
Schon drei Tage später können die DDR-Bürger über ihre Zukunft und indirekt über ihr Vermögen abstimmen. Sie können über die Idee der ehemaligen Laubenpieper entscheiden. Was, wen und wie werden sie wählen?
John landet in Irland
John konnte seinen Sitzplatz in der Runde der anderen Gäste frei wählen. Mrs. Ferry, die Gasthauschefin, hatte zum Essen geläutet. Die Gäste, die schon einige Tage hier verbracht hatten, schienen sich bereits heimisch zu fühlen. Honeyhouse sah von außen wie von innen genauso aus wie auf den Fotos in der Broschüre. John klappte seinen Kragen hoch, um sein Gesicht zumindest teilweise zu verdecken. Er war daran gewöhnt, dass die Leute stutzten, wenn sie ihn sahen, und dann riefen: „Oh, mein Gott, Sie sind doch Stephen Carry!“ Aber in Honeyhouse erkannte ihn niemand. Vielleicht hatte der unermüdliche Mason doch recht, wenn er befürchtete, dass Stephen Carry Gefahr lief, als Marke an Bekanntheit zu verlieren.
John