Der liebe Gott Allahu akbar. Tullio Aurelio

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Der liebe Gott Allahu akbar - Tullio Aurelio


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waren als ihre Götter. Ihre Größe fußte auf der Macht des Brauchtums (das sind die Gebete, die Riten, das Opfer, die Lieder). Sie schafften die Götter beiseite, dann waren die Priester weg, weil sie als Vermittler nicht mehr nötig waren. Anschießend kam der Lehrer der Religion der Selbsterlösung, Buddha, um den Menschen zu sagen, dass sie keine Götter haben und keine brauchen. Europa, meinte Nietzsche, sei weit weg von dieser ‚Stufe der Kultur’ (sinngemäß aus: Die Morgenröthe, 96).

      Der heutige Versuch seitens der christlichen Kirchen und der meisten Muslime, nur die positive, menschenfreundliche Seite der Religion als die echte Religion zu stilisieren, schlägt fehl, denn zu jeder Zeit haben sich Menschen, die anderen Menschen Böses antun, auf Gott berufen. Sie glauben dabei vielleicht, Gottes Willen zu befolgen und deshalb Gutes zu bewirken: Ihr Gott sei zwar ein guter und ein lieber, aber besonders ein gerechter und strenger Gott.

      Heute früh bin ich aufgewacht...

      „Stellen wir uns doch mal eine Welt vor, in der es keine Religion gibt“, schreibt Richard Dawkins im Vorwort zum seinem Buch ‚Der Gotteswahn’. Dawkins selbst stellt sich unter anderem vor, es gäbe dann im Namen Gottes keine Selbstmordattentäter, keinen Krieg zwischen Israelis und Palästinensern, keine Kreuzzüge, keine Hexenverfolgung, keine Verfolgung von Juden als ‚Christusmörder’, keine ‚Ehrenmorde’, keine Zerstörung antiker Statuen durch die Taliban, keine öffentlichen Enthauptungen von Ketzern, keine Prügel für das Verbrechen, zwei Zentimeter nackte Haut zu zeigen, und vieles andere mehr.

      Vielleicht hat es – long, long time ago - zu einer Zeit, an die wir uns alle nicht mehr, nicht einmal in unserem kollektiven Bewusstsein, erinnern, eine Welt ohne Religion gegeben. Ob die Wunschvorstellung Dawkins unsere die heutige Welt betreffenden Überlegungen weiterbringt?

      Selbst hätte ich nichts dagegen, wenn es in der Welt keine Religionen gäbe. In dem Fall gäbe es mit Sicherheit keine Zerstörungen antiker Statuen, keine Attentate, keine Kreuzzüge, keine Glaubenskriege, keine Morde in Namen irgendeines Gottes. - Gäbe es dann überhaupt kein Blutbad mehr zwischen den Völkern, keine harten Strafen für Untreue, keine Verfolgung, keine Misshandlung, keine Tötung von Andersdenkenden?

      Der Meinung bin ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch dazu keine Religion und keine Götter nötig hat. Er braucht sie eher als Alibi, damit er sich selbst nicht als die Ursache seiner Missetaten sehen muss und die Schuld auf ein Alter Ego, das er Gott nennt, schieben kann.

      Papst Franziskus, der heute eine Religion vertritt, die früher den eigenen Glauben im Namen ihres Gottes gegen Andersgläubige oder gegen Ungläubige, wie man sie damals bezeichnete, mit Waffengewalt und Marterwerkzeugen verteidigte oder anderen Menschen aufzwang, sagt heute, Menschenmisshandlungen im Namen Gottes seien ein Frevel, sie seien ein Werk des Teufels. Ich bin der Meinung, dass der Mensch weder den früheren christlichen Gott noch den Teufel dazu braucht.

      Gott und Teufel könnten moderne Überbleibsel einer mythischen Welt sein, in der Götter und Dämonen stets mitmischten. Und wenn sie existieren sollten, für das Gute und das Böse in der Welt ist ihre Rolle völlig irrelevant. Es bedarf keines Gottes, damit auf unserer Erde Gutes entsteht. Wir stellen auch heute ganz nüchtern fest, dass viele Menschen, die Gutes tun, an keinen Gott glauben. In den früheren Jahrhunderten war es nicht anders.

      Der Mensch kann Gutes und Böses tun, den Mitmenschen erfreuen oder ihn zur Verzweiflung bringen. Er kann einen neuen Eden und eine irdische Hölle schaffen. Dazu braucht er keine Götter und keine Teufel.

      Ich vermute, viele Menschen sind gar nicht meiner Meinung. Wenn es in der Welt keine Religion gäbe, würden sie den Gottesdienst vermissen, in den sie gerne hingehen und sich dort in irgendeinem Gott aufgehoben fühlen. Auch wenn sie nicht sicher sind, dass es einen Gott gibt, würden sie es vermissen, wenn sie keine Gelegenheit hätten, sich in einem Kultraum zu versammeln, mit anderen zu singen und zu beten – zu wem auch immer -, mit einem unsichtbaren Gegenüber zu reden, auf ihn einzuflüstern. Eine ursprüngliche Sehnsucht nach Gott entwickelt im Laufe der Zeit eine gewisse Sucht nach dem Kult, und der religiös süchtige Mensch würde unter einem gewaltigen Entzug leiden, wenn keine Religion ihm diese Möglichkeit anböte. Auch die Menschen, die meinen, ohne Gott und Religion sei die Moral gar nicht begründbar, können meine süffisante Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher Religion nicht ohne Widerspruch hinnehmen.

      Ich bleibe aber dabei. Auch die Religion ist ein Werk des Menschen. Menschen haben die Religion gestiftet und dafür einen Gott gebraucht.

      Die Religionen unterscheiden sich untereinander, nicht weil Gott, den sie anbeten, jeweils anders ist, soweit es überhaupt einen gibt, sondern weil die Menschen nicht nur die Religionen, sondern auch die dazu nötigen Götter nach ihrem eigenen Bild erfunden haben. Die Religion ist zum Leben nicht nötig, die von ihr erfundenen Götter noch weniger.

      Alle meine Götter sind tot.

      „The eyes of the Lord are everywere.“ Der Spruch ist in einer Zelle des ‚Castle’ zu Norwich in England zu lesen. Noch vor fünfzig Jahren hätte man ihn in jedem ‚Gotteshaus’, in vielen Sprachen, zu unterschiedlichen Anlässen gehört. Er war das beste religiöse Erziehungsmittel, um Gott im Leben der Menschen, besonders der Kinder und der Jugendlichen obsessiv präsent zu halten. Dass dieser Spruch nun in einem früheren Gefängnis eines englischen Schlosses zu lesen ist, ist ein echtes Sinnbild für die damalige religiöse Erziehung, die viele Menschen krank und unfrei gemacht hat und sie religiös zwanghaft fesselte.

      Heute früh bin auch ich aufgewacht. Um mich herum waren sämtliche Götter verschwunden. Kein Gott war mit mir aufgestanden. Komisch, dachte ich, gerade habe ich aufgehört, an Götter zu glauben, und sie sind alle spurlos verschwunden. Ein Gefühl des Glücks übermannte mich.

      Früher - eigentlich bis kurz vor diesem Morgen - wusste mein Gott über mich gut Bescheid. Er wusste, dass ich aufgewacht war, und er gab mir unterschwellig bereits erste Anweisungen, etwa wie ich zu beten hätte, an wen ich denken, was ich dringend erledigen sollte. Er war mein allgegenwärtiger Begleiter, er sah alles, er durchschaute das Innerste meines Herzens, ihm etwas vorenthalten zu wollen, war unmöglich. Er wusste genau, was für mich gut und was nicht gut war, entsprechend waren seine Erwartungen an mich. Das machte mich damals gar nicht unglücklich. Ich wähnte mich sogar glücklich aufgehoben – ein Gefühl, das mir ermöglichte, mich diesem inneren Gott gerne zu fügen.

      Später, als religiöser Spätpubertärer, lehnte ich mich immer stärker gegen seine Weisungen auf, wurde ihm gegenüber immer kritischer. Das geschah aber schrittchenweise, und ich bildete mir ein, der liebe Gott merkte gar nicht, dass ich immer stärker auf Distanz zu ihm ging. Oder vielleicht, anders ausgedrückt, mir selbst wurde nicht ganz bewusst, dass ich Gott immer weniger brauchte.

      ‚Heute früh’ bedeutet also nicht die Morgenröte des heutigen Tages, sondern den Beginn einer neuen Zeit, deren Anfänge weit zurück reichen, als man sich denken mag. Aber nun ist es soweit: Alle meine Götter sind tot.

      Nach einem Augenblick der Desorientierung fühle ich mich ‚heute früh’ endlich wohl.

      Ich muss wohl erklären, was ich mit dem Satz meine, dass alle meine Götter tot waren, damit man mich nicht mit Nietzsches’ Übermensch verwechselt. Ich bin nicht Nietzsches’ Übermensch, eher ein Durchschnittsmensch, hoffentlich ein normaler Mensch.

      Die Wirklichkeit ist wie immer vielschichtiger, als sie sich vordergründig zeigt. Ich formuliere deshalb vorsichtiger: Alle meine Götter sind tot. Die Unterstreichung macht deutlich, dass ich zunächst nur meine Götter als tot erfahre und als solche erkläre.

      Es ist also kein Bekenntnis, dass Gott, wenn es ihn gibt, tot ist. Wenn es Gott gibt, dann ist er nicht tot, und wenn es Gott nicht gibt, dann hat es ihn nie gegeben, und deshalb ist er auch nie gestorben. Die zwei Aussagen - alle meine Götter sind tot, und: Gott selbst, wenn es ihn gibt, kann so oder so nicht tot sein – sind nicht unsinnig, sie sind Teile eines nur scheinbaren Paradoxes. Die Auflösung des Paradoxes ist sehr einfach: Meine Götter sind seit ihrer


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