Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Leben in Ägypten ändert sich. An die Stelle des primitiven Gemeinschaftslebens tritt die auf Sklavenhaltung gegründete Gesellschaftsordnung. Die ursprünglich allen gemeinsame Arbeit verteilt sich nun auf Hunderte verschiedener Menschengruppen. An den Wänden der Grabkammern sieht man Bauern und Handwerker bei der Arbeit. Hockend dreht der Töpfer mit der Hand die Scheibe. Der Tischler sägt ein Brett mit der Handsäge. Der Schuster näht, auf einem niedrigen Schemel sitzend, Sandalen. Der Schmied tritt bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fuß den Blasebalg, um das Feuer im Herd anzufachen. Der Landmann geht hinter dem Pflug und treibt die Ochsen mit der doppelschwänzigen Peitsche an.
Wo es eine solch weit entwickelte Arbeitsteilung gibt, gibt es auch ausgiebigen Tauschhandel. Die auf den Wänden der Tempel und Grabkammern abgebildeten Menschen arbeiten nicht nur, sie tauschen auch ihre Erzeugnisse aus. Der Fischer hält, vor seinem Korb kniend, dem Schmied einen Fisch für ein Bund Angelhaken hin. Der Bauer tauscht Früchte gegen ein Paar Sandalen. Der Vogelfänger gibt einen Käfig mit einem Vogel für kunstvoll gefertigte Glasperlen. Aber wo ist Gott? Und was tauscht er? Im alten Ägypten tauscht Gott die verschiedensten Götter untereinander aus. Offensichtlich legt er Wert auf die Naturnähe seiner Untergötter: Da gibt es Thot, den Gott der Gelehrten und Schreiber – also der Priesterkaste. Die Hohen Priester sind die Stellvertreter ihrer Götter, und auch die Priesterkaste verlangt – schon ganz irdisch – ihren Obolus. Sie dienen ihren Herren, den Pharaonen. Doch es gibt hier jede Menge Götter, die den verschiedenen Dingen und Eigenschaften dienlich sind.
Da ist Re, er ist die Sonne selbst, die alles am Leben erhält; da ist der Nilgott; da ist die Göttin der Fruchtbarkeit; da ist Selket, die Heilerin und Magierin; Seth, der Gott des Bösen. Ich möchte hier nicht alle Götter aufzählen, jedoch zwei aus einem besonderen Grund noch erwähnen: Chnum, der Schöpfergott, der die Menschen aus Ton auf seiner Töpferscheibe erschafft. Und da ist noch ein Schöpfergott namens Ptah – der Former; die Welt ist aus seinem Wort entstanden; er ist Schutzpatron der Handwerker und Künstler.
Weshalb habe ich die beiden letzten Götter betont? Wir haben vor Jahrtausenden die Urgesellschaft verlassen und einen Zeitsprung in die Sklavenhalterordnung gewagt. Und jetzt stellen wir fest, dass zugleich mit dem ausgeprägten „Ich“ auch die Bedeutung des Werkzeugs, der Arbeit, die Schöpfung von Produkten in das Bewusstsein der Menschen tritt. Der Mensch begreift, dass er es ist – er selbst !! –, der schafft und schöpft. Keine fremde Macht fertigt ihm die Schuhe, bestellt die Felder, malt sprechende Bilder und jagt für ihn. Er alleine ist es. Er tritt aus der ursprünglichen, unbegreiflich verworrenen Märchenwelt hinaus in das Reich der ersten kleinen Erkenntnis. Aber er fragt sich: Ist es nicht so, wenn er selbst Schöpfer all der Grabkammern, Wehren und Dämme, Schiffe, Pflug- und Rüstungsgütern ist, dass er selbst auch „geschaffen“ wurde? Muss es nicht auch jemand geben, der ihn „geschöpft“, ihn „aus Ton geknetet“ hat?
Nun gut. So werden wir in nächster Zeit erkunden müssen, wie der Schöpfungsgedanke sich in das mehrtausendjährige Hirn der Menschheit einbrannte. Und wie dieser Schöpfungsgedanke den Priestern und den selbst zu Göttern ernannten Königen äußert gelegen kam.
Vorlesung 9
Wie waren durch unseren Zeitsprung in Ägypten gelandet. Bis zu unserer Zeit sind es jetzt zirka 5000 Jahre. Während es in der Zeit davor noch Gemeineigentum gab, man gemeinsam auf den Feldern arbeitete und allen alles gemeinsam gehörte – vom Werkzeug bis zur Hütte –, gibt es nun Reiche mit großem und Arme mit kleinem Landbesitz. Der Reiche bestellt sein Feld nicht mehr selbst, er hat Sklaven. Zur Zeit der Bestellung und der Ernte arbeiten auch die freien Bauern für ihn. Ja, selbst nach seinem Tode müssen sie ihm Gaben in seine Grabkammer bringen. An den Wänden sieht man lange Reihen von Bauern und Bäuerinnen; sie führen Lämmer zum Opferplatz; auf den Köpfen tragen sie Körbe mit Früchten, Krüge mit Wein für die Totenmessen und Opferdarbringungen.
Noch ist die Welt eng, in der die Ägypter leben. Doch mit jedem Jahrhundert verlassen sie das Haus öfter und öfter. Es führt sie der Schlachtengott Wepwat, der Wegbereiter. Die Ägypter brauchen Sklaven, die gewinnt man nur durch Krieg. Da kann ein Kriegsgott nützlich sein, denken sich die Erfinder von Wepwat. Außerdem braucht man Balken aus Zedernholz für die Bauten, Kupfer für die Hämmer, Gold und Elfenbein für Schlösser, Tempel und Mausoleen. Immer häufiger begegnen die Ägypter fremden Völkern. Sie beginnen zu begreifen, dass auch der Fremde ein Mensch ist, aber noch ist es lange nicht so weit, dass sie zugeben, er sei ein ebensolcher Mensch wie sie selber.
Der Fremde, sagen die Ägypter, ist ein verächtlicher, trauriger Mensch. Der Sonnengott Ra hasst ihn. Nicht für die Fremden scheint die Sonne, sondern für die Ägypter. Es ist keine Sünde, einen Fremden zu erschlagen, um sich seines Besitzes zu bemächtigen. Was sich nicht durchs Schwert erringen lässt, tauscht man bei den Nachbarn gegen Brot, Waffen oder Schmuck ein.
An der Südgrenze Ägyptens – auf der Elefanteninsel – treffen die Ägypter ihre Nachbarn, die Nubier, die schwarzen Elefantenjäger. Die Ägypter breiten auf der Erde ihre Waren aus: Kupfermesser, Glasperlen, Armspangen, und die Nubier bringen Elefantenzähne und Goldsand. Man feilscht um den Preis. Und das Dorf, in dem sich dies abspielt, nennt man „Syene“ – „Preis“.
Die Nachbarn, die im Norden leben, bringen selber ihre Waren nach Ägypten. Immer häufiger landen die Schiffe der Phönizier an der Küste. Die Seefahrer ziehen ihre Schiffe auf den Strand und laden Balken und Kupfererz aus.
Handel treibend, erkundet man die Welt. Inseln, Berge, Täler erhalten Namen. An diesen Namen erkennt man sogleich, welche Reichtümer das Land birgt. Das Zederntal in Phönizien ist reich an Zedern. Von der Kupferinsel – Zypern – holt man Kupfer. Auf der Halbinsel Sinai, was Malachit bedeutet, gewinnt man den grünen Kupferspat Malachit. In den fernen Silberbergen, die heute Tauern heißen, findet man Silber.
Einstmals meinte der Mensch, es gäbe nichts, was kleiner wäre als ein Sandkorn, nichts Größeres als die Berge. Bis zum heutigen Tag sagt man „berghoch“ oder „klein wie ein Sandkörnchen“. Doch der Mensch hat die Grenzen seiner Welt geweitet. Er stieg auf die Berge und überzeugte sich staunend, dass sie nicht bis an den Himmel reichen. Er schliff Steine und beobachtete aufmerksam die winzigen Rillen und Unebenheiten, über die der Schleifstein glitt.
Immer tiefer drang er in die Welt der winzigsten Dinge ein, die man mit dem Auge schon nicht mehr wahrnehmen kann. Mit dem Tastsinn des Blinden suchte er in der Undurchdringlichkeit des Mikrokosmos den Weg zum Metall. Im „Kupferhaus“, in der Schmiede, rief der zauberkundige Mann, der Schmied, das Feuer zu Hilfe. Das Feuer zerbrach die Ketten, an die im dunklen Schoß des Erzes die Kupferatome geschmiedet waren. Und das Kupfer verließ seinen Kerker – leuchtend, klingend, glänzend. Wie einen Schrein öffnete der Mensch das Erz, um im Mikrokosmos des Stoffes den Schlüssel zum Tor des Makrokosmos zu finden.
Die phönizischen Schiffbauer behauten mit ihren scharfen Äxten das harte Holz aus den Stämmen am Fuße des rauhen Libanon. Sie richteten einen riesigen Balken her, begradigten ihn nach der Schnur und befestigten Bretter daran, wie Rippen an der Wirbelsäule. Darüber legten sie das Deck, um die Spanten zu befestigen. Das Heck schnitzten sie wie einen Fischschwanz und den Bug wie einen Vogelkopf. Fertig ist das unwahrscheinliche Wunderding, das sie in unbekannte Länder bringen soll. Möge es im Wasser nicht untergehen, wie ein Fisch. Möge es schnell durch die Wellen ziehen, wie die Vögel in den Lüften.
Doch was ist das für ein hölzernes Menschlein, das die Phönizier sorgsam ans Heck setzen? Das ist der Zwerg Puam, der kleine Hammergott. Wie sollte man den nicht mitnehmen auf große Fahrt? Er hatte doch geholfen, das Erz in den dunklen Erzgruben Meluchiens auf der Malachithalbinsel zu gewinnen. Er hatte die Axt in der Schmiede gehämmert. Er hatte seine Kräfte nicht geschont, als die Zimmerleute das Schiff bauten. So möge denn dieser Zwergengott aus dem Mikrokosmos sein Kind – das Schiff – in den Weiten des Makrokosmos schützen. Erfundener Talisman oder zurechtgebogener Gott – Hauptsache der Mensch hat einen Beschützer.
Die Jahrhunderte vergehen. Nun sind es schon nicht mehr fünf, sondern nur noch vier Jahrtausende bis zu unserer Zeit. Die Schiffe der Phönizier durchpflügen das Mittelmeer. Sie fahren